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Erdogan-Unterstützer in Gaziantep kurz vor dem Besuch von Präsident Erdogan Ende August 2016. (reuters)
Legende: Wer ist «gut» und wer «böse»? In der Türkei folgen Meldungen auf Meldungen. Es ist schwer, einen Überblick zu behalten. Reuters

International «Türken unterstützen Erdogan – mehr als sich Europa vorstellt»

Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk ist empört. Er kritisiert die Vorgänge in der Türkei scharf. Doch die Mehrheit der Türken steht hinter Präsident Erdogan und seiner Säuberung. «Mehr, als man sich das in Europa vorstellen kann», sagt die Journalistin Louise Sammann im Gespräch.

Luise Sammann

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Die Journalistin Luise Sammann lebt und arbeitet seit 2009 in der Türkei und berichtet von dort für deutsche Medien über das Land sowie den Nahen Osten. Auch bei Radio SRF ist sie immer wieder zu hören.

Der türkische Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger von 2006, Orhan Pamuk, kritisiert die neuerliche Verhaftungswelle in der Türkei öffentlich. In in einem Gastbeitrag in der italienischen Zeitung «La Repubblica» schreibt er: «Die Gedankenfreiheit existiert nicht mehr. Wir bewegen uns mit grosser Geschwindigkeit von einem Rechtsstaat zu einem Terrorregime.»

Die in der Türkei lebende Journalistin Louise Sammann über die Stimmung in der türkischen Öffentlichkeit – und die Kritik des prominenten Literaten.

SRF News: Wie wird Pamuks Kritik in der Türkei wahrgenommen?

Louise Sammann: Die sorgt hier für weniger grosse Wellen als in Europa. Insgesamt ist es so, dass sich die intellektuellen Kreise durch das, was er ausspricht, bestätigt fühlen. Es ist das, was sie seit Wochen und Monaten auch sagen.

Die anderen – Regierungsanhänger und vielleicht auch die breite Masse der türkischen Gesellschaft – bekommt davon überhaupt nichts mit. Denn die Massenmedien werden in der Zwischenzeit alle von Erdogan-Anhängern kontrolliert. Solche Stimmen kommen dort nicht zu Wort. Was Pamuk sagt, findet in diesen Medien gar nicht statt. Und wenn solche Leute erwähnt werden, dann als Vaterlandsverräter.

Es ist eine dezidierte Kritik, die Pamuk da äussert. Hat er denn nun in der Türkei etwas zu befürchten?

Bezüglich einer Verhaftung kommen andere Namen noch weit vor Orhan Pamuk – er meldet sich nämlich nicht besonders häufig kritisch zu Wort. Allerdings droht ihm die Verdammung als Vaterlandsverräter. Rufschädigung trifft viele noch fast härter als eine Verhaftung. Denn jeder, der es wagt, etwas gegen Präsident Erdogan zu sagen, wird zur Persona non grata.

Jeden Tag werden es mehr Menschen, die verhaftet oder aus dem Staatsdienst entlassen werden. Können die Menschen in der Türkei da eigentlich noch folgen?

Nein. Und vielleicht ist es noch schwerer, den Überblick zu behalten, wenn man in der Türkei ist. Die Schwemme der Information ist so gross, dass man das Gefühl bekommt, man lebe in einem schlechten Krimi: Es wimmelt von Nachrichten, welcher Geschäftsmann nun festgenommen wurde, welche Videokassetten von vor zwanzig Jahren gefunden wurde, auf der angeblich dieser Putschversuch schon angekündigt worden ist.

Das führt zu einer Abstumpfung der Menschen. Man kann nicht wochenlang jeden Tag solche Nachrichten verfolgen. Die Menschen schauen die Nachrichten nicht mehr, kucken lieber Gewinnshows und Serien. Als normaler Mensch ist es fast nicht mehr möglich einzuschätzen, wer nun gut und wer böse ist. Das spielt der Regierung in die Hände. Denn je weniger Leute genau hinschauen, desto grösser ist der Spielraum der Regierung.

Wann wird es denn dem gewöhnlichen Menschen auf der Strasse zu bunt?

Die Menschen werden Erdogan so lange unterstützen, wie es ihnen finanziell gut geht.

Den Türken wird es genau an dem Punk zu bunt, an dem sie es an ihrem Geldbeutel merken. Die Menschen werden Erdogan so lange unterstützen, wie es ihnen finanziell gut geht – das sagen mir türkische Analysten immer wieder. Dem Durchschnittstürken ging es noch nie so gut wie unter der AKP-Regierung von präsident Erdogan. Noch nie besassen so viele Menschen eigene Autos, eigene Flachbildschirme.

Cigdem Akyol im Interview

So lange es weiterhin so ist, ist ihnen egal, wie gross die Pressefreiheit ist und was irgendwo auf einer abstrakt-intellektuellen Ebene geschieht. Den türkischen Ottonormalverbraucher interessiert, ob er seine Tochter in ein gutes Haus verheiraten kann und ob er sich eine gute Wohnung und ein Auto leisten kann. Noch funktioniert die türkische Wirtschaft einigermassen. Doch sie ist ins Stocken geraten – hervorgerufen durch die Tourismuskrise wegen der Terroranschläge und den Streit mit der Gülen-Bewegung. Viele Bazarhändler und Autoverkäufer haben nun Angst vor dem, was kommen mag.

Wie äussert sich diese Angst?

In der Türkei weiss man heute nicht mehr, wer gut und wer böse ist – und wie man sich verhalten soll. Gestern war die Gülen-Bewegung noch die grosse Freundin der Regierung, jeder der seine Kinder auf Gülen-Schulen schickte, der hatte alles richtig gemacht im Leben. Heute hat er alles falsch gemacht. Man merkt an kleinen Dingen, dass die Leute Angst haben, als Gülen-Sympathisanten dazustehen. Wenn auf ihrem Auto-Nummernschild die Buchstaben FG stehen ( Anm. d. Red. Abkürzung für Fetullah Gülen), haben sie das Gefühl, sie werden gleich verhaftet. Ich kenne jemanden, der heisst Fetullah zum Vornamen. Das ist nun so, wie wenn Sie in Deutschland Adolf hiessen. Das heisst, dieser Fetullah hat Angst, er könnte verhaftet werden, ihm könnte unterstellt werden, er trüge diesen Namen, weil er ein Gülen-Sympathisant sei. Es ist eine recht paranoide Stimmung hier.

Man merkt an kleinen Dingen, dass die Leute Angst haben, als Gülen-Sympathisanten dazustehen.

Was denkt die Mehrheit?

Die grosse Mehrheit der Türken ist völlig einverstanden mit der Verhaftungswelle der Gülen-Bewegung. Die Überzeugung, dass sie seit vielen Jahren das grosse Übel der Türkei ist, die ist in der Mehrheit der Bevölkerung und auch bei vielen Erdogan-Kritikern ganz deutlich vertreten. Sie wollen, dass mit diesem islamischen Netzwerk aufgeräumt wird. Die Unterstützung für die Säuberungen, wie Erdogan sie nennt, ist erstaunlich gross – vielleicht grösser, als man sich das in Europa vorstellen kann.

Das Gespräch führte Claudia Weber.

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