Einen Tag nach der tödlichen Geiselnahme eines Staatsanwalts durch Linksextremisten in Istanbul ist das Polizeipräsidium in der türkischen Metropole angegriffen worden.
Eine «Terroristin», die eine Bombe am Körper getragen habe, sei von Sicherheitskräften getötet worden, meldete die Nachrichtenagentur Anadolu. Der zweite Angreifer – ein Mann – sei verwundet gefasst worden. Ein Polizist wurde verletzt. Anadolu berichtete, die beiden Angreifer hätten am Haupteingang des Präsidiums das Feuer eröffnet – Sicherheitskräfte daraufhin zurückgeschossen. Die Hintergründe des Angriffs sind vorerst nicht bekannt.
Geiselnahme in Gerichtsgebäude
Erst am Dienstag waren zwei Mitglieder der in der Türkei verbotenen linksradikalen Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) in ein Gerichtsgebäude in Istanbul eingedrungen und hatten den prominenten Staatsanwalt Mehmet Selim Kiraz in ihre Gewalt gebracht.
Nach sechs Stunden vergeblicher Verhandlungen stürmte die Polizei den Raum, die Geiselnehmer wurden getötet. Staatsanwalt Kiraz wurde so schwer verletzt, dass er auf dem Weg ins Spital starb.
Ermittlungen verlaufen im Sand
Staatsanwalt Kiraz ermittelte wegen des Todes von Berkin Elvan. Der 14-Jährige war im Jahr 2013 während der Gezi-Unruhen in Istanbul von einer Tränengaskartusche der Polizei am Kopf getroffen worden und nach monatelangem Koma im März 2014 gestorben.
Kiraz' Geiselnehmer hatten von den Behörden gefordert, sie sollten die Namen jener Polizisten veröffentlichen, die für den Tod des Jungen verantwortlich seien. Diese müssten vor ein «Volksgericht» gestellt werden.
Konsequentes Vorgehen angekündigt
Am Mittwoch wurde in Istanbul nicht nur die Polizeidirektion attackiert. Ein Bewaffneter drang auch in ein Gebäude der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ein. Eine Sondereinheit der Polizei stürmte das Gebäude und nahm den Mann fest. Über seine Motive war zunächst nichts bekannt.
Der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu kündigte derweil ein konsequentes Vorgehen gegen jegliche Gegner an. Er sprach von einem «Bündnis des Bösen». «Wir werden nicht in diese Falle tappen, wir werden ihnen dieses Land nicht überlassen», sagte er nach der Trauerfeier für den getöteten Staatsanwalt.
«Kultur der Straffreiheit für Polizisten»
Nach der Tötung des Staatsanwalts kam es in der Nacht im Stadtteil Gezi zu Ausschreitungen. Warum die Emotionen auch zwei Jahre nach den Protesten noch derart hoch gehen, erklärt SRF-Mitarbeiter Thomas Seibert: «Der Fall Berkin Elvan ist in der Türkei zum Symbol geworden für Polizeigewalt – und auch für den Unwillen der Behörden, diese zu ahnden und zu bestrafen.»
Die Ermittlungen der Justiz und der Polizei schleppten sich seit bald zwei Jahren dahin, so Seibert. Ohne dass jemals ein Verantwortlicher benannt worden wäre.
«Der Staat kann nichts Schlechtes tun»
Generell sei es in der Türkei so, dass Übergriffe, Gesetzesverstösse oder schwere Misshandlungen von Polizisten eher schleppend bearbeitet werden von den Behörden, führt Seibert aus. «Menschenrechtler beklagen immer wieder eine Kultur der Straffreiheit für Polizisten, selbst bei schweren Fällen.» Die Behörden seien unwillens, gegen Vertreter der staatlichen Stellen vorzugehen. Dahinter stecke ein Staatsverständnis, so Seibert, das dem europäischen zuwiederlaufe: «Der Staat kann nichts Schlechtes tun.»
Im Fall Elvan komme erschwerend hinzu, dass die Geschehnisse politisiert worden seien, so der Türkei-Experte: «Präsident Erdogan nannte den Jungen quasi einen Terroristen, der Polizisten habe angreifen wollen. Seine Eltern beharren darauf, ihr Sohn sei auf dem Weg zum Bäcker am Kopf getroffen worden.»
Angesichts dieser Politisierung hätten die Behörden erst recht wenig Interesse daran, hier «Dampf zu machen und den Polizisten vor Gericht zu bringen», schliesst Seibert.