Künftige Kriege werden nicht mehr nur mit Infanteristen, Panzern, Kampfflugzeugen und Kanonenbooten ausgefochten. Sondern immer öfter auch – oder gar mehrheitlich – im virtuellen Raum. Davon ist Professor Michael Schmitt überzeugt. Der amerikanische Völkerrechtler lehrt am US Naval College, der Eliteschule der Marine. Vor allem aber leitete er im Cyber-Abwehrzentrum der Nato im estnischen Tallinn eine Arbeitsgruppe mit einem so wichtigen wie heiklen Auftrag: Sie sollte eine Cyber-Doktrin für die Militärallianz entwickeln.
Diese liegt jetzt unter dem Namen «Tallinn Manual». Nach Schmitts Worten hat dieses Handbuch keinen offiziellen Charakter. Er räumt allerdings auch ein, dass dem Papier grösste Bedeutung zukomme.
«Man sollte das auf jeden Fall ernst nehmen»
Davon überzeugt ist auch der Zürcher Völkerrechtler Oliver Diggelmann, der der De-facto-Doktrin sehr kritisch gegenübersteht. In den Händen von Oberkommandierenden könne ein solches Regelwerk durchaus bedeutsam werden, so Diggelmann. «Man sollte das sehr ernst nehmen.» Zumal es ansonsten weit und breit noch gar kein Regelwerk gebe für das Verhalten von Staaten im digitalen Krieg.
Problematisch findet Diggelmann bereits die Runde, die das Schlüsseldokument ausgearbeitet hat. «Es fällt auf, dass sie zu einem grossen Teil aus Militärs oder militärnahe agierenden Juristen besteht.» Nicht dabei waren hingegen Vertreter anderer als westlicher Kulturkreise, obschon das weit über die Nato und westliche Länder hinaus bedeutsam werden dürfte. Das IKRK als Hüterin des humanitären Völkerrechts sass nur als Beobachter und Berater am Tisch.
Entsprechend militärfreundlich fiel das «Tallinn Manual» aus. Michael Schmitt, der Kopf dahinter, streitet das gar nicht ab. Sobald ein Land mit Cyber-Feindseligkeiten beginne, könne von einem Krieg die Rede sein, sagt der Völkerrechtler. Und dann dürfe zurückgeschossen werden – virtuell, aber durchaus auch klassisch militärisch, also mit konventionellen Waffen.
«Die UNO-Charta muss neu interpretiert werden»
Schmitt weiss: Noch findet eine Mehrheit der Völkerrechtler, ein Gegenangriff zur Selbstverteidigung setzt massive physische Schäden, Tote oder Verletzte voraus. Doch das werde sich rasch ändern, ist er überzeugt. Die UNO-Charta, die das Recht auf Selbstverteidigung sehr eng fasse, müsse neu interpretiert werden.
Ganz konkret: Ein Grossangriff etwa auf den amerikanischen «Way of life», auf Kommunikationsnetze oder die Börse würde bereits einen militärischen Gegenschlag rechtfertigen.
Der Zürcher Professor Diggelmann hingegen findet es unzulässig, dass auch ökonomische Schädigungen als bewaffneter Angriff verstanden werden. Denn: «Gemäss dem geltenden Völkerrecht kann man eigentlich nur dann Selbstverteidigung üben, wenn ein bewaffneter Angriff im Gange ist.»
Vorbeugende Selbstverteidigung?
Heikel sei zudem, dass das Handbuch für den Cyber-Krieg auch das Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung grosszügig definiere. «In der bisherigen Praxis ging man davon aus, dass man in ganz restriktiv definierten Fällen Selbstverteidigung auch dann üben kann, wenn ein Angriff unmittelbar bevorsteht.» Klassisches Beispiel: Als Ägypten unmittelbar davor stand, Israel anzugreifen und dieses zum Selbstschutz den Sechstagekrieg auslöste.
Auch im Zusammenhang mit solchen vorbeugenden Verteidigungskriegen argumentiere das Tallinn-Manual sehr militärfreundlich, so Diggelmann. In den Händen von «nicht so völkerrechtsbewussten Politikern» könne dies unter Umständen eine schwerwiegende Wirkung entfalten.
Erstmals existiert nun also ein Regelwerk für Cyberkriege. Es stützt sich zwar auf das heutige, bewusst restriktiv formulierte Kriegsvölkerrecht. Doch es legt dieses grosszügig aus, legt also die Latte für militärische Gegenschläge nicht allzu hoch. Das dürfte – das müsste – politisch noch zu reden geben.