Die Extremisten des Islamischen Staates (IS) stützen sich auf einen grossen Rückhalt bei ihren Glaubensbrüdern, den Sunniten im Irak, erklärt Tilgner in der Sendung «10vor10».
Das kleinere Übel: IS-Milizen
In grossen Teilen der Bevölkerung würden die Milizionäre nicht selten als das kleinere Übel empfunden. Im Gegensatz zu den jeweiligen Regierungen in Irak, Syrien oder im Libanon. Daraus erwachse der Rückhalt der Extremisten in weiten Teilen der Bevölkerung, die die Aufständischen gewähren lasse. Selbst dann, wenn man Vorbehalte gegenüber manchen Aktionen oder Einstellungen habe.
In der Umkehr lasse die IS-Miliz die Leute vor Ort «das tun, was sie möchten» - solange es keine Andersgläubigen sind. Dazu gehörten eben auch Proteste gegen die Regierung in Bagdad, die den Islamisten obendrein in die Karten spielen. Für Minderheiten wie Christen oder Jesiden allerdings, die jetzt zu Tausenden aus ihrer angestammten Heimat in Nordirak vertrieben worden sind, werde in der Folge «das Leben unerträglich», ergänzt Tilgner.
Politisches Risiko der Bombardements
Vor diesem Hintergrund würde, neben der begrenzten Wirkung, bei den US-Luftschlägen immer auch ein gewisses politisches Risiko mitfliegen, fährt der Irak-Experte fort.
Denn die Vorbehalte gegen die Amerikaner in der Bevölkerung würden zunehmen, wenn die «gezielten Luftangriffe» eben nicht nur IS-Kämpfer treffen, sondern etwa auch Mitglieder von Stammesmilizen, mit denen die Extremisten paktieren. «Wenn die getötet werden, dann wird die Wut gegen die USA steigen», ist sich Tilgner sicher. Dann werde die Erbitterung zunehmen und die IS würde «beim Vormarsch auf Bagdad mehr Unterstützung erfahren».
US-Angriffe sollen IS isolieren
Die Taktik von US-Präsident Barack Obama sei es deshalb, die IS-Truppen bis zu einem Regierungswechsel in Bagdad zu isolieren – durch begrenzte und präzise Attacken aus der Luft, die kaum zivile Opfer fordern. Ob diese Rechnung des Weissen Hauses aufgeht sei allerdings ungewiss, gibt Tilgner zu Bedenken.
Denn Washington habe das Problem, das der derzeitige Regierungschef Nuri al-Maliki, der in der irakischen Bevölkerung kaum mehr Rückhalt hat, seinen Stuhl nicht räumen will – obwohl er keine Mehrheit mehr im Parlament hat. Der Schiit Maliki führe zudem auch das Verteidigungs- und Innenministerium und «errichte eine Diktatur». Das schüre bei den Irakern auf der Strasse, insbesondere wenn sie zur sunnitischen Bevölkerungsruppe gehören, nur noch weiter die Abneigung gegen die Administration in Bagdad, erläutert Tilgner und fährt fort: «Genau das machen sich die IS-Extremisten zu Nutze». Und deshalb könnten die Rebellen nach jetzigem Stand der Dinge weiter «relativ leichtes Spiel haben».
Abdankung Malikis notwendig
Vor diesem Hintergrund sei die Abdankung des schiitischen Premiers eine der Voraussetzungen um den IS-Truppen den Boden ihrer Unterstützung in der Bevölkerung zu entziehen, meint Tilgner. Die notwendige Einigkeit der Maliki-Gegner im Parlament sei bereits hergestellt. Jetzt brauche es noch «das Moment, das Iran Maliki fallen lässt». Dann «steht er alleine da, und dann muss er gehen» – zumal, wenn ihm gleichzeitig Washington noch den Rücken zudreht.
Ein erster Hinweis auf die Haltung der Amerikaner sei, dass die US-Bomber derzeit die IS-Einheiten nahe der Kurden-Hochburg Erbil angreifen und nicht etwa vor Bagdad, erläutert Tilgner. Die Obama-Administration wolle in keinem Fall das Signal einer Unterstützung für Maliki aussenden.