SRF: Wolf Grabendorff, wieso sind die Proteste in Venezuela gerade jetzt so heftig?
Wolf Grabendorff: Sie sind deswegen so heftig, weil die Opposition nicht bis zu den nächsten Wahlen warten will. Innerhalb der Opposition gibt es eine Bewegung, die der Meinung ist, der Druck der Strasse müsse den Präsidenten Maduro zum Rücktritt zwingen.
Die Opposition fordert Maduros Rücktritt. Welches Programm hat sie sonst?
Alles, was Chávez gemacht hat, soll rückgängig gemacht werden. Die Opposition fordert, dass vor allem die Wirtschaft saniert werden soll. Aber sonst sind die Forderungen nicht klar erkennbar. Die demokratische Opposition besteht aus etwa 20 verschiedenen Parteien. Unklar ist, was der direkte Kurs sein soll und wie die Reformen, die das Land dringend benötigt, umgesetzt werden sollen.
Was müsste denn eine neue Regierung tun, um die Wirtschaftskrise in Venezuela zu entschärfen?
Dazu gehört sicherlich, dass sie ein neues Verhältnis zur Privatwirtschaft finden müsste. Denn Chávez hat sehr viel nationalisiert und verstaatlicht – und Maduro noch mehr in der kurzen Zeit, seit er Präsident ist. Darin ist auch einer der Gründe zu finden, warum die Versorgung im Land so katastrophal ist. Es fehlt an allem im Land. Die Währung ist verfallen. Alle, die können, bringen ihre Ersparnisse ins Ausland. Neben der politischen Krise gibt es auch eine Strukturkrise der Wirtschaft. Die hängt auch damit zusammen, dass Chávez jahrelang vor allem Kuba viel Geld als Unterstützung geschickt hat.
Dazu kommt eine hohe Kriminalität in Venezuela. Das Land hat die höchste Mordrate der Welt. Erklärt sich die alleine durch die Wirtschaftskrise?
Nein, nicht alleine durch die Wirtschaftskrise; vor allem auch durch eine sehr korrupte Polizei, die zudem gespalten ist. Wenn zum Beispiel in einem Bezirk oder einer Stadt ein Oppositionskandidat die Wahlen gewonnen hat, ist die Polizei auf der Seite der Opposition – und umgekehrt. Das bedeutet, dass auch innerhalb von Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, die Polizei nicht zusammen arbeitet. Sie arbeitet eher gegeneinander. Ausserdem sind viele Polizisten dermassen schlecht bezahlt, dass sie nur von der Kriminalität leben können.
Probleme hatte Venezuela ja auch unter Chávez. Aber wieso gab es keine so grossen Proteste?
Das hängt mit Chávez’ Persönlichkeit zusammen. Chávez war nach Fidel Castro und Perron die drittgrösste Führungspersönlichkeit in den letzten 50 Jahren auf diesem Kontinent. Er hat es verstanden, sich als Führer der Region darzustellen; sowohl gegenüber den Armen im Land als auch gegenüber den Nachbarländern. Dieser Führungsstil hat es ihm erleichtert, selbst mit seinen politischen Gegnern umzugehen.
Nicolás Maduro war also nicht in der Lage in den zehn Monaten seit er Venezuelas Präsident ist, zumindest gewisse Korrekturen am Programm von Chávez anzuführen?
Nein, verglichen mit Chávez ist er eigentlich nur ein Clown. Er ist weder eine Führungspersönlichkeit noch hat er starke Verbindungen innerhalb des Chavismus. Er hat das Land eigentlich noch mehr heruntergewirtschaftet als Chávez es in den 14 Jahren vorher getan hat.
Das heisst aber auch, Maduro kommt nicht nur von der Strasse unter Druck sondern auch vom chavistischen Machtzirkel selbst?
Das ist richtig, ja. Die Frage ist, wie sich der Unwille über die mangelnde Führungsqualität von Maduro durchsetzen wird. Das Militär, das in weiten Teilen gespalten ist, ist sich nicht klar, wer der neue Führer sein könnte. Die Auseinandersetzung auf der Strasse hat zudem gezeigt, dass Maduro seine eigenen Leute nicht kontrollieren kann. Denn die meisten Schüsse sind nicht vom Militär, sondern vom Geheimdienst und von sogenannten «colectivos», das sind bewaffnete Gruppen der Chavistas, gefallen.
Das heisst, Venezuela hat sozusagen ein chavistisches, autoritäres Dach und darunter existieren ganz viele Gräben mit unterschiedlichen Machtzirkeln?
Ja, und gerade diese Diffusion der Macht führt dazu, dass auch Reformen sehr schwer durchzusetzen sind. Viele Beobachter in der Region halten nur noch ein Militärregime in der Lage, für Ordnung zu sorgen.