SRF News: Die UKIP-Abgeordneten rund um Parteichef Nigel Farage werden das EU-Parlament aufgrund des Brexit verlassen. Viele weitere EU-Gegner werden aber im Parlament bleiben. Wie gehen Sie damit um?
Guy Verhofstadt: Das Europäische Parlament ist seit den Wahlen 2014 tatsächlich politisch breiter. Es gibt mehr Parteien, die gegen das europäische Projekt opponieren. Aber die pro-europäische Koalition zwischen den Konservativen (European People’s Party), den Sozialdemokraten (S&D) und den Liberalen Demokraten (ALDE) funktioniert gut und stellt sicher, dass das Parlament eine konstruktive Rolle spielt.
Für all das braucht man nicht 28 Kommissare
Problematischer finde ich, dass der Aufstieg von populistischen Rechtsparteien und Anti-Migrations-Diskursen zu einem Zustand der Ängstlichkeit und Unsicherheit geführt hat, der die politischen Führungskräfte lähmt und die Verbreitung populistischer Mantras fördert. Der einzige Weg, diese Negativspirale zu stoppen, ist die EU fundamental zu reformieren. Sie muss effektiver werden, indem sie die grossen Probleme wie Immigration, Wirtschaftskrise und Sicherheitsbedrohung angeht. Und die EU sollte auf der Weltbühne mehr zu sagen haben. Für all das braucht man nicht 28 Kommissare. Das kann mit einer weniger bürokratischen und kleineren, aber effizienteren europäischen Regierung erledigt werden.
Sie wollten 2014 Präsident der Europäischen Kommission werden. Was hätten Sie anders gemacht als der aktuelle Präsident Jean-Claude Juncker, um die EU näher zu den Leuten zu bringen?
Ich denke, die Europäische Kommission leistet in der laufenden Amtszeit gute Arbeit. Das Problem ist nicht im Europäischen Parlament oder der Europäischen Kommission zu finden, sondern in einigen Regierungen der Mitgliedsstaaten. Manche EU-Länder sind zunehmend zurückhaltend in der Übernahme von europäischen Lösungen. Sie denken, sie müssten sich hinter nationalen Lösungen, wie von populistischen und nationalistischen Parteien verlangt, verstecken – aber sie liegen falsch. Die Leute sind nicht gegen Europa. Die Leute sind gegen dieses Europa, das nicht fähig ist, Lösungen zu liefern.
Was meinen Sie damit?
Die EU beschäftigte sich zu sehr mit kleinen Dingen. Für die grossen Probleme, welche die Leute am meisten beschäftigen, lieferte sie hingegen keine Lösungen: Die Flüchtlings-, die Wirtschafts- und die Sicherheitskrise. Die Flüchtlingskrise ist das deutlichste Beispiel. Die zunehmend geteilten und verzweifelten europäischen Führungskräfte scheitern, eine effektive und kollektive Antwort auf die Krise zu liefern.
Lasst Brexit als Gelegenheit nutzen
Ein anderes Beispiel ist die wirtschaftliche Steuerung der EU. Fast alle Regierungen glauben, die wirtschaftliche Steuerung der EU müsse sich dahingehend verändern, dass der Euro tragfähiger wird. Trotzdem scheinen sich diese Regierungen zu fürchten, den nächsten Schritt zu machen und ihre Ansprüche mit einer entsprechenden Vertragsänderung in die Realität umzusetzen. Die Angst vor weiteren Referenden ist der Grund dafür.
Wenn wir aber den Kopf weiterhin in den Sand stecken und die grossen Probleme nicht angehen, geben wir den Nationalisten und Populisten das Werkzeug, um Kampagne gegen Europa zu machen. Europa muss sich verändern, um zu überleben. Das ist was jetzt gemacht werden muss. Lasst Brexit als Gelegenheit nutzen, um die EU zu reformieren.
Und wie genau?
Erstens sollten wir nun versuchen, eine rasche und freundliche Scheidung von den Briten sicherzustellen, um unnötigen Unruhen auf den Finanzmärkten, negativen Auswirkungen auf den Handel und Stellenverluste zu vermeiden. Wir brauchen die Anrufung von Artikel 50 des EU-Vertrags (EUV) (regelt den Austritt eines Mitgliedes, Anm. d. Red.) – jetzt. Zweitens: Mehr und mehr Europäer fühlen, dass Europa nicht fähig ist, die mehrfachen Krisen, mit welchen wir heute konfrontiert sind, zu bewältigen. Wir müssen effizienter miteinander zusammenarbeiten. Eine Währungsunion ohne eine politische Union funktioniert schlicht nicht.
Was muss sich ändern?
Die Europäische Union sollte sich durch das Projekt der Gründungsväter inspirieren lassen. Diese haben eine Union vorhergesehen, die gross ist in grossen Angelegenheiten. Sie wollten aber nicht eine Bürokratie kreieren, die auf kleine Angelegenheiten spezialisiert ist. Das Gegenteil ist eingetroffen. Wir haben es verunmöglicht, dynamischer und fähiger zu werden, um den heutigen Herausforderungen entgegenzutreten. In grossen Angelegenheiten kann nur mit Einstimmigkeit entschieden werden, was sich als Rezept für den totalen Stillstand erwiesen hat.
Wir müssen die Regel der Einstimmigkeit loswerden
Um Ihnen ein aktuelles Beispiel zu geben: Die Terroristenattacken in Paris und in Brüssel. Die Täter waren den Nachrichtendiensten schon bekannt, diese tauschten aber die Informationen nicht untereinander aus. Man könnte denken, die EU-Mitgliedsstaaten würden dies nach diesen schockierenden Ereignissen ändern. Leider hat sich nichts geändert, weil gewisse Mitgliedsstaaten zum Schluss kommen, entsprechende Massnahmen würden gegen ihre Souveränität gehen. Kurz: Wir müssen die Regel der Einstimmigkeit loswerden. Und wir müssen fähig sein, die EU mit einer europäischen Armee zu verteidigen.
Gelingt das nicht, ist die EU verdammt dazu, auseinanderzubrechen
Wir müssen Jobs kreieren, indem wir wirtschaftliche Stabilität über eine Wirtschaftsregierung kreieren, die Bürger mit einer europäischen nachrichtendienstlichen Kapazität vor Terroristenattacken schützen und die Kontrolle über unsere Grenzen gewinnen. Gleichzeitig müssen wir den Flüchtlingen gegenüber mit einer europäischen Grenz- und Küstenwache einen menschlichen Umgang an den Tag legen.
Das sind hohe Ziele.
Die schlechteste Sache, die wir jetzt tun können, ist unsere Hände in den Sand vergraben, nichts zu tun und zu hoffen, dass der Sturm vorüberzieht. Wir müssen die Herzen und Ansichten der Europäer zurückgewinnen. Gelingt das nicht, ist die EU verdammt dazu, auseinanderzubrechen.