Bereits vor zwei Jahren warnte die Nato vor drohender Anarchie in Libyen: Das Land sei vor dem Zerfall, beherberge das weltweit grösste ungesicherte Arsenal an Waffen – ein Schreckensszenario. Libyen, das 2011 von einer Koalition westlicher Staaten und lokaler Gruppen von Diktator Muammar al-Gaddafi befreit worden war, drohte zum gescheiterten Staat zu werden.
Mittlerweile teilen zahllose Beobachter diese Sicht. Die Verhältnisse im Bürgerkriegsland scheinen ihnen Recht zu geben: Zwei Regierungen bekämpfen sich gegenseitig: In Tobruk sitzt die international anerkannte Regierung, in Tripoli eine Koalition von Rebellen.
Und über allem schwebt unheilvoll ein Ableger des «Islamischen Staats». Mit der Enthauptung von 21 koptischen Christen inszenierte er Anfang Jahr seinen blutigen Terror. Seither hat er sich in mehreren Regionen im Osten des Landes ausgebreitet.
«Zeichen funktionierender Staatlichkeit»
Das alles lässt den Begriff «Chaos» beschönigend erscheinen. Und die Journalistin Bettina Rühl bestätigt: In Tripoli gebe es tatsächlich zahlreiche Milizen mit unklarer Kommandostruktur; Gangs hätten sich ausgebreitet und entführten Menschen; und auch die Netzwerke und Schläfer des «Islamischen Staat» seien ein akutes Sicherheitsrisiko, auch in der Hauptstadt.
Rühl hat aber auch Erstaunliches zu berichten: «Es gibt Zeichen funktionierender Staatlichkeit: Staatsbetriebe wie Stahlwerke funktionieren, die Justiz arbeitet, wenn es die Sicherheitslage erlaubt – verrückterweise bezahlt die Regierung in Tripoli sogar Gegner aus dem verfeindeten Landesteil, damit sie ruhig bleiben.»
«Segensreich» sei vor allem das Wirken der Zentralbank: «Wie staatliche Erdölunternehmen und die sogenannte Investitionsagentur hat sie ihre Neutralität erklärt. Statt bei verfeindeten Milizen zu entscheiden, wer im Recht ist, zahlt sie einfach.»
Sicherheitslage teils dramatisch
In vielen Landesteilen, vor allem im Süden, sei die Sicherheitslage zweifellos prekär. Auch im Osten, wo der «Islamische Staat» einige Gebiete unter direkter Kontrolle habe, würden andere Gesetze gelten. «Doch offenbar soll selbst dort die Universität wieder öffnen.» Allerdings nicht weil die Dschihadisten ihr Flair für säkulare Bildung entdeckt hätten – der Schritt ist kühl kalkuliert, wie Rühl berichtet: «Die Leute möchten, dass ihre Kinder zur Schule gehen können. Sonst verlassen sie die Region.»
Nichtsdestotrotz: Das Sicherheitsvakuum im Land bezweifelt Rühl nicht. Und es treibt auch die europäischen Staaten um. Nicht nur wegen der marodierenden Terrormiliz; sondern auch wegen der Flüchtlingsroute übers Mittelmeer. Diese verriegelte der in dieser Frage «verlässliche Partner» Gaddafi zu Lebzeiten. Nach seinem Sturz wurde Libyen zum unbestrittenen Drehkreuz der Migrationsströme, die sich heute auf die Balkanroute verlagert haben.
Mein Arbeitgeber: Der «Islamische Staat»
Die «libyschen» Flüchtlinge mögen von der Agenda verschwunden sein, doch es gibt sie immer noch zu Tausenden. Und sie sind, wie Rühl berichtet, in vielen Fällen gekommen, um zu bleiben: «Um es mal so zu sagen: Die körperliche Arbeit in Libyen wird nicht von Libyern verrichtet. Man sieht hier legale und illegale Arbeiter aus allen Teilen des Kontinents – in allen Städten.»
Und: Viele der Flüchtlinge hätten gar nicht vor, nach Europa weiterzureisen: «Sofern die Banküberweisungen in die Heimat funktionieren, wollen viele Migranten lieber in Libyen bleiben. Denn hier lässt sich gutes Geld verdienen.»
Und die billigen und willigen Arbeitskräfte haben auch die Aufmerksamkeit der Terrormiliz geweckt: «Viele Menschen haben mir berichtet, dass auch der IS mit Migranten Geschäfte macht und sie anwirbt. Und darauf scheinen sich auch viele einzulassen.» Mit ideologischer Nähe habe dies aber wenig zu tun, die Antriebe sind monetärer Natur: «Es ist eine lukrative Möglichkeit Geld zu verdienen. Die Terrormiliz scheint einer der bestzahlenden Arbeitgeber zu sein.»
Und die finanziellen Möglichkeiten der vielleicht 2000-3000 IS-Terroristen im Land könnten alsbald anwachsen, weiss Rühl: «Der IS versucht, die Kontrolle über die Ölquellen zu gewinnen. Offensichtlich steht der Bruder eines finanzstarken Exporteuers dem sogenannten Islamischen Staat sehr nahe.»