Häuserkampf. Die Angreifer suchen Deckung hinter einer Häuserecke, das Dorf ist unter Kontrolle von Dschihadisten. Einige der Extremisten haben sich im Schulhaus verschanzt, mit Sprenggürteln, so die Befürchtung. Sie halten mehrere Dorfbewohner als Geiseln. Auf einer Anhöhe am Dorfeingang lauert ein Scharfschütze. Die Zufahrtsstrasse ist vermint.
Wir sind auf einem Truppenübungsplatz ausserhalb von Erbil, der Hauptstadt des Kurdengebiets. Die Stimmung ist locker, doch was hier trainiert wird, nährt sich von Erfahrungen, die ein paar Dutzend Kilometer entfernt blutige Realität sind im Kampf um Mossul.
Fokus humanitäres Völkerrecht
Die Peschmerga-Offiziere entwerfen die Szenarien nach dem, was sie selber in der Konfrontation mit IS erlebt haben, einem Gegner, der zum Äussersten bereit ist. Jonathan Somer ist der Trainer auf dem Truppenplatz. Der Kanadier ist kein Militär, sondern ein Jurist und Experte für internationales Recht in bewaffneten Konflikten.
Die Menschenrechtsorganisation «Geneva Call» mit Sitz in Genf hat ihn geschickt. «Es geht bei dem Training nicht um militärische Ziele, der Fokus liegt ganz beim humanitären Völkerrecht», erklärt Somer.
Schutz von Zivilisten
Beim Training sind knapp 20 Leutnants und Hauptleute, je einer aus jeder der Brigaden, die dem Peschmerga-Ministerium unterstellt sind. Die Offiziere sollen sich vergegenwärtigen, was sie im Einsatz tun müssen oder müssten, um nicht ihrerseits humanitäres Recht zu brechen.
Im Vordergrund steht der Schutz der Zivilbevölkerung. Es geht aber auch um die Menschenwürde des Gegners. Das ist eine besondere Herausforderung angesichts der Dschihadisten, die ganz bewusst mit aller Grausamkeit vorgehen.
Das humanitäre Völkerrecht muss schon bei der Einsatzplanung bedacht werden.
Debriefing. Der Feind ist geschlagen. Die Geiseln sind befreit. Wo kam das humanitäre Völkerrecht ins Spiel? «Die Befreiten wurden solange im Schulhaus festgehalten, bis sich die Lage stabilisiert hatte, zu ihrer eigenen Sicherheit», berichtet der Kommandant der Gruppe Alpha. Ein unbewaffneter Zivilist hatte mit dem Feind kollaboriert. Die Übungsgruppe ermordete ihn nicht. Sie nahm ihn fest, pflegte auch verwundete Feinde, barg deren Tote. Geplündert wurde nicht.
Der Trainer ruft in Erinnerung, das humanitäre Völkerrecht müsse schon vor der Operation, bei der Einsatzplanung, bedacht werden. Nur dann habe es eine Chance: Sind die gewählten Waffen verhältnismässig? Wo im Dorf sind Kämpfer, wo Zivilisten? Gibt es Spitäler? Wie können die Unbeteiligten möglichst aus dem Kampf herausgehalten werden? Wo sind die Fluchtkorridore für die Zivilbevölkerung?
Der Ernstfall beginnt für die Offiziere gleich nach dem Kurs wieder. Sie kehren zurück in ihre Einheiten. Die meisten stehen an der Front vor Mossul. Eine Million Menschen sollen sich in der Stadt noch aufhalten.
Echtes Anliegen oder doch nur PR?
Wie kann also die Bevölkerung möglichst geschützt und gleichzeitig die Dschihadisten-Miliz IS besiegt werden? Das ist alles andere als eine theoretische Frage. Neben der Schweiz ist die EU einer der Sponsoren dieses Trainings.
Frankreich und Deutschland unterstützen die Peschmerga auch mit Waffen. Den Kurden die Gebote der verhältnismässigen Kriegsführung nachzuliefern, ist für die westlichen Geldgeber auch eine Art Rückversicherung – vor der eigenen Öffentlichkeit: Wir rüsten lokale Kämpfer auf, bemühen uns aber gleichzeitig, unsere eigenen Werte nicht aufzugeben.
Und die Peschmerga-Führung selbst? Geht es ihr tatsächlich um die Achtung des Völkerrechts im Kampf gegen die Dschihadisten, oder doch mehr um PR? Darum, vor den westlichen Sponsoren gut dazustehen?
«Das spielt eigentlich gar nicht so eine Rolle. Solange wir mit den Leuten arbeiten können und sie sich darauf einlassen, ist es letztlich egal, ob es eine echte politische Absicht ist oder eher PR», sagte Armin Köhli, Programmverantwortlicher von «Geneva Call» für diese Projekte in Irak. Bei der Arbeit mit den Kämpfern bleibe sehr viel hängen. Sie könnten in dieser Zeit auch über die eigene Kriegsführung reflektieren.
Es bleibt sehr viel hängen, wenn die Leute eine Woche lang über ihre eigenen Kriegsführung reflektieren können.
Hier in Erbil sind es sogar zwei Wochen. Der Klassenunterricht und die Trainings in der nachgestellten Dorfkulisse des Truppenübungsplatzes wechseln sich ab. «Geneva Call» versuchte selbst schiitische Milizen im Irak zu erreichen. Sie sind berüchtigt für die Verletzung der Menschenrechte. Plünderungen und Rachemorde im eroberten sunnitischen Gebiet werden ihnen vorgeworfen.
«Dazugelernt»
Die Peschmerga der Alpha-Gruppe haben beim Training die aufgebrachte Menge abgedrängt, die den gefangenen Dschihadisten umbringen wollte. Die Kämpfer verweigerten dem Gotteskrieger die Flucht ins Paradies. Er erhielt stattdessen eine Zigarette und soll einem irdischen Militärgericht vorgeführt werden.
Auf dem Truppenübungsplatz in Erbil sind die Kurden mit Engagement dabei. So viel ist zu erkennen. «Wir haben viel dazugelernt», sagt ein Hauptmann. Die Offiziere sollen die Erkenntnisse nun in die Einheiten tragen, ihrerseits als Trainer fürs humanitäre Völkerrecht. Das ist die Absicht.
Aber ist dafür wirklich Zeit? Und werden die Kameraden auch empfänglich sein? «Wir sind Peschmerga. Wenn wir uns gleich verhalten wie die Terroristen, gibt es keinen Unterschied mehr, sagt einer. Und er verweist auf die kurdischen Traditionen der Menschlichkeit, die für sich schon ein Bollwerk seien gegen die Verrohung.
Doch es ist auch Skepsis zu hören. Es hat sich viel Hass aufgestaut in der Region: «Wir sollen Gesetze einhalten gegenüber einem Feind, der an nichts glaubt und nichts respektiert. Es wird nicht einfach sein, das an der Front allen gleich verständlich zu machen», räumt einer der Offiziere ein.