SRF: Was wissen Sie über die aktuelle Lage in den umkämpften Städten Donezk und Lugansk?
Ludger Kazmierczak: Ich bin in Kiew und vermag die Lage dort nicht einzuschätzen. Die Medien machen widersprüchliche Angaben: Schaue ich die täglichen Pressekonferenzen des ukrainischen Sicherheitsrates an, dann höre ich neue Erfolgsmeldungen über Gebietsgewinne und über Rückeroberungen strategisch wichtiger Gebäude rund um die zwei Städte.
In Lugansk seien die Regierungstruppen gestern bis ins Zentrum vorgedrungen. Das hört sich so an, als sei es nur noch eine Frage von Stunden, bis die Stadt komplett eingenommen ist. Wenn ich hingegen die russischen Medien nehme, lese ich immer nur von Erfolgen der Volksmilizen, wie die Separatisten da genannt werden. Gestern sollen sie sieben Panzer der ukrainischen Armee zerstört haben.
Fakt ist aber Eines: Täglich lassen viele Menschen ihr Leben in diesem Krieg – immer häufiger auch Zivilsten. Auch die Zahl der Flüchtlinge steigt, denn die Lebensumstände in diesen beiden Städten sind katastrophal. Es fehlt an Strom, Wasser und Lebensmitteln.
Was ist der Stand der Dinge mit dem russischen Hilfskonvoi?
Die 280 Lastwagen stecken immer noch an der Grenze zur Ukraine fest. Russlands Aussenminister Sergej Lawrow sagte gestern, Kiew blockiere dies. Dafür könne man nichts. So einfach ist das aber natürlich nicht.
Das Internationale Rote Kreuz, das diesen Konvoi begleiten soll, fordert Sicherheitsgarantien, damit auf dem Weg in die Donbass-Region nichts passiert. Aber wie soll die ukrainische Regierung diese Garantien geben, wenn auf dem Weg dorthin Separatisten mit schweren Geräten lauern? Das ist russischer Zynismus, wie wir ihn schon seit Monaten erleben.
Würde Moskau seinen Einfluss auf die Rebellen geltend machen, dann könnte der Konvoi vermutlich sofort starten. Aber Russland tut so, als habe es diesen Einfluss nicht. Dabei gibt es immer mehr Indizien dafür, dass Moskau die Rebellen mit Material und Personal unterstützt.
Es heisst ja immer wieder, die prorussischen Rebellen stünden kurz vor einer Niederlage. Offenbar sind sie aber stärker als lange angenommen?
Das denke ich auch. Deshalb müssen wir die Erfolgsmeldungen, die von beiden Seiten verkündet werden, mit grosser Vorsicht geniessen. Die nächsten Tage werden zeigen, ob Lugansk wirklich schon unter Kontrolle der ukrainischen Regierungstruppen ist.
Ich habe den Eindruck, dass die Kämpfe noch eine ganze Weile weitergehen werden. Man sieht auch, wie gut die Separatisten ausgestattet sind. Es gibt Berichte von Kollegen, die an der Grenze gesehen haben, wie russisches Militärmaterial über die Grenze geschafft wurde. Es gibt also immer wieder Nachschub für die Kämpfer, die dort ausharren.
Zu einem anderen Aspekt: Die Ukraine hat zahlreiche russische Fernsehstationen gesperrt, wegen angeblicher «russischer Propaganda». Wieso erst jetzt?
Ich bekomme noch alle russischen Sender. Allerdings habe ich auch Satellitenfernsehen. Ich glaube, es betrifft nur die Kabelkanäle. Es ist mir absolut schleierhaft, was diese Aktion soll. Natürlich wird in den russischen Medien viel gelogen.
Aber die Ukrainer sind mündige Bürger. Sie können sich selbst ein Bild von der Lage machen. Das ist für die Menschen im Osten hingegen sehr schwierig. Aber ich kann mir diesen Aktionismus nicht erklären. Damit wird die Ukraine in Resteuropa nicht punkten.
In einer Woche sollen sich Russlands Präsident Putin und der ukrainische Präsident Poroschenko im weissrussischen Minsk treffen. Ist das die Chance für eine friedliche Lösung in der Ostukraine?
Ich habe es mir abgewöhnt, irgendwelche Erwartungen an solche Treffen zu knüpfen. Dafür sind schon zu viele diplomatische Versuche gescheitert. Aber es ist natürlich schon ein kleiner Fortschritt, dass sich die beiden Präsidenten überhaupt an einen Tisch setzen.
Vielleicht zeigen die EU-Sanktion tatsächlich ihre Wirkung. Putin spürt den Druck seitens der Wirtschaft im eigenen Land. Poroschenko seinerseits weiss, der Winter kommt. Deshalb wäre es gut, den Gasstreit mit Russland beizulegen. Es gibt vermutlich auf beiden Seiten Druck, mindestens miteinander zu reden.
Das Interview führte Hans Ineichen.