SRF: Ist Schottland, das am 18. September über seine Unabhängigkeit abstimmt, ein Vorbild für die Katalanen?
Hans-Joachim Voth: Natürlich. Vor allem auch die beispielhafte demokratische Einstellung der englischen Zentralregierung hat Vorbildfunktion in ihren Augen. Man erlaubt es den Schotten über ihr Schicksal abzustimmen. Das ist etwas, was im spanischen Fall bisher undenkbar erscheint.
Heisst das, man hofft in Katalonien auf ein schottisches Ja und damit auf Rückenwind für die eigene Unabhängigkeit?
Unbedingt. Den Katalanen fehlt ein bisschen der Mut: die Vorstellung, dass sie es wirklich schaffen können. Das schottische Beispiel ist sehr inspirierend. Man sieht, dass die Leute abstimmen dürfen, dass sie es sich zutrauen, unabhängig zu werden, dass das Ganze vielleicht wirtschaftliche funktionieren kann. Das könnte einen Dominoeffekt auslösen.
Wird man denn auch in Verhandlungen mit Madrid das schottische Beispiel ins Feld führen?
Viele Gespräche zwischen den Katalanen und der Zentralregierung gibt es nicht. Madrid stellt sich auf einen sehr legalistischen Standpunkt und sagt, das dürft ihr alles nicht. Das widerspreche der spanischen Verfassung. Das schottische Beispiel ist wichtig für die Motivation der Leute auf der Strasse. Aber der politische Prozess ist heikel. Die Katalanen werden wahrscheinlich ohne Genehmigung der Zentralregierung versuchen, die Abstimmung durchzuführen. Das kann zu Konflikten und Gewalt führen.
Sie sprechen die geplante Volksbefragung vom 9. November in Katalonien an. Aus Madrid heisst es jetzt schon, aufgrund der spanischen Verfassung sei eine solche Befragung rechtlich nicht möglich – und erst recht nicht bindend. Glauben Sie, dass es ein Fehler seitens Kataloniens wäre, das Referendum trotz Verbot Madrids durchzuführen?
Nein. Ein Volk hat das Recht abzustimmen und zu entscheiden, wie es weiter gehen will. Dazu braucht es keine Genehmigung. Die Vorstellung, dass dies jetzt im spanischen Prozess legalisiert und abgesegnet werden muss, ist völlig fehlgeleitet. Als die Amerikaner unabhängig wurden, haben sie auch nicht erst England um Erlaubnis gefragt.
Madrid stellt sich anders als London auf den Standpunkt der territorialen Integrität eines Staates: Nur Gesamtspanien könne darüber entscheiden, ob Katalonien unabhängig werden kann. Dieser Grundsatz ist ja auch in der UNO-Charta festgelegt. Hat man denn kein Verständnis für diesen Standpunkt?
Das ist völlig absurd. Weder in Kanada, wo man über Quebec hat abstimmen lassen, noch in Grossbritannien wo man nun über Schottland abstimmt, gibt es die Vorstellung, dass der Gesamtstaat darüber abstimmt, ob eine Teilregion sich verabschieden darf. Das ist wie in den Ehen. Früher haben wir Scheidungen schwer möglich gemacht. Da mussten beide Seiten zustimmen, auch wenn etwa der Mann die Frau verprügelt hat. Heute reicht es, wenn einer sagt, ich habe die Schnauze voll, ich gehe. Auf diesem Standpunkt sind die Spanier bis heute nicht angekommen.
Trotzdem: Wenn Madrid sich quer stellt, wird es wahrscheinlich in absehbarer Zeit nicht möglich sein, dass Katalonien sich ganz abspaltet?
Das hätte man wahrscheinlich auch über die Unabhängigkeit Irlands oder Indiens gesagt. Wenn die Katalanen schwarz wären, würde jeder sofort sagen, das ist Kolonialismus in Europa. Es ist völlig inakzeptabel, dass man Leute gegen ihren Willen ausplündert, ihre Kultur mit Füssen tritt, sie als Minderheit missachtet und sie dann nicht mal darüber entscheiden lässt, ob sie damit einverstanden sind. Spanier behandeln Katalonien so wie die Belgier den Kongo behandelt haben. Nur weil sie weiss sind, ist es kein Riesenskandal.