Der Ton zwischen Brüssel und Warschau verschärft sich. Jetzt hat die EU-Kommission entschieden, ein Verfahren zur Prüfung der Rechtsstaatlichkeit einzuleiten.
Polen soll «unter Aufsicht» gestellt werden, wie es der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger vor ein paar Tagen nannte. Dies, da die polnischen Nationalkonservativen seit ihrem Wahlsieg im Oktober quasi im Eiltempo mehrere höchst umstrittene Gesetzesänderungen verabschiedet haben: Etwa die Regierungskontrolle über die öffentlichen Medien und neue Regeln fürs Verfassungsgericht.
Frühwarnsystem – entstanden «aus reinem Frust»
Die nun beschlossene Rechtsstaats-Prüfung ist eine Premiere in der Europäischen Union. Die ehemalige EU-Kommissarin Viviane Reding hatte das Instrument 2014 ins Leben gerufen. «Aus reinem Frust», wie sie gegenüber der «Tagesschau» erklärte.
Für Reding ist es eine Selbstverständlichkeit, dass EU-Mitgliedsstaaten auch rechtsstaatliche Grundsätze applizieren. Sie habe allerdings feststellen müssen, dass dies «bei den Neuankömmlingen» nicht immer der Fall sei.
Zu verstehen ist der sogenannte Rechtsstaatsmechanismus als eine Art Frühwarnsystem, um antidemokratische Tendenzen zu erkennen und zu unterbinden. Die EU nimmt die kritisierte Regierung dabei ins Visier und versucht, eine gemeinsame Lösung zu erlangen. Das Verfahren ist allerdings ziemlich aufwändig. Es umfasst drei Stufen:
- Die EU-Kommission analysiert sämtliche Daten und entscheidet, ob klare Anzeichen für eine «systembedingte Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit» bestehen. Dann erläutert sie dem betreffenden Mitgliedstaat schriftlich ihre Bedenken. Der Mitgliedstaat hat die Möglichkeit, darauf zu antworten.
- Gibt es keine Einigung, so richtet die Kommission eine «Rechtsstaatlichkeitsempfehlung» an die kritisierte Regierung. Darin empfiehlt sie dem Mitgliedstaat, die genannten Probleme innerhalb einer bestimmten Frist zu lösen.
- In der dritten Phase überprüft die Kommission, ob und wie mögliche Massnahmen umgesetzt wurden.
Der «Atombomben-Artikel»
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Reagiert das Land – in diesem Fall Polen – nicht oder nicht zufriedenstellend auf die Änderungswünsche aus Brüssel, so dürfte die EU in einem weiteren Verfahren Strafmassnahmen verfügen. Schlimmstenfalls könnte Polen gar sein Stimmrecht im Europäischen Rat sowie bei EU-Gipfeln verlieren. Eine Sanktion, die in Diplomatenkreisen als «die Atombombe» bekannt ist: Ein allerletztes Mittel, das kaum je eingesetzt wird, da schon seine alleinige Existenz abschreckend wirkt. Oder wie es Reding einst formulierte: «Man sollte zwei- oder besser dreimal darüber nachdenken, bevor man auf dieses Instrument zurückgreift.»
Dass es so weit kommt, ist jedoch sowieso höchst unwahrscheinlich, zumal die anderen Mitgliedstaaten dem Entscheid zustimmen müssten. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban machte aber bereits unmissverständlich klar, dass sein Land Polen den Rücken stärken und allfällige Strafmassnahmen per Veto unterbinden werde.
Zunächst ein «lauwarmes Verfahren»
Mit der ersten Stufe des Verfahrens wolle die EU kein Öl ins Feuer giessen, berichtet SRF-Korrespondent Sebastian Ramspeck aus Brüssel. Polen müsse damit noch keine Konsequenzen fürchten: «Die EU setzt zunächst auf ein ‹lauwarmes Verfahren› ohne handfeste Konsequenzen: sie setzt auf Gespräche mit dem Ziel einer einvernehmlichen Lösung», so Ramspeck.
Die polnische Regierung fühle sich mit dem Verfahren in ihrer Ansicht bestätigt, wonach sich die EU zu stark in die innerstaatlichen Angelegenheiten einmische, sagt SRF-Sonderkorrespondent Pascal Kraus. Auch sei sich die Regierung sicher, dass sie im Falle einer Verschärfung des Verfahrens auf die Unterstützung anderer EU-kritischer Mitgliedsstaaten zählen kann: «Die Regierung ist zuversichtlich, dass wenn es hart auf hart kommen sollte, die sogenannte ‹Allianz der EU-Skeptiker› Polen beistehen wird», berichtet Kraus aus Warschau.