Boko Haram ist eine der gefährlichsten Terror-Organisationen. Der islamistischen Miliz im Norden Nigerias sollen allein im vergangenen Jahr gegen 10'000 Menschen zum Opfer gefallen sein. Seit Jahren versucht die Nigerias Regierung, Boko Haram mit militärischen Mitteln zu bekämpfen.
Mittlerweile geht das Land noch einen anderen Weg. Ein Team aus Imamen, Psychiatern und Lehrern soll die gefangenen und übergelaufenen Boko-Haram-Kämpfer deradikalisieren.
Den Koran selber lesen
Einer dieser Experten ist der Psychiater Ferdinand Iquang. Wenn er versucht, aus heiligen Kriegern normale Menschen zu machen, beginnt die Therapie mit Lesen und Schreiben. Denn viele dieser ehemaligen Terroristen hätten das nie gelernt. «Aber sie können den Koran von der ersten bis zur letzten Seite zitieren», sagt Iquang. «Und sie haben alles geglaubt, was angeblich im Koran stehen soll.» Das Lesenlernen sei deshalb einer der wichtigsten Punkte des Programms. Zum ersten Mal in ihrem Leben können sie den Koran selber lesen und stellen fest, das vieles, was ihnen gesagt wurde, gar nicht im Koran steht.
Iquang ist mitverantwortlich für das erste Deradikalisierungsprogramm für ehemalige Boko Haram-Kämpfer in Nigeria. Gegen 800 befinden sich offenbar in den Militärgefängnissen der nigerianischen Armee. Mit Hilfe der «Operation safe corridor» sollen sie den Weg zurück in die Gesellschaft finden. Die Herausforderung sei, in die Herzen und Köpfe dieser irregeleiteten Männer zu gelangen. Man unterrichte Dinge, die Menschen in anderen Teilen der Welt bereits im Kindergarten lernten.
Einzeltherapie für jeden Kämpfer
«Wir haben eine Gruppe von 51 Imamen. Diese wurden für ihre Aufgabe von den Gefängnisbehörden unter der Europäischen Union speziell für diese Aufgabe ausgebildet», erklärt Iquang. Unterstützt würden sie von Psychologen und Ärzten. Jeder ehemalige Kämpfer bekomme eine Einzeltherapie. «Wir müssen den Grund finden, weshalb jemand radikalisiert wurde. Wenn wir dieses Problem lösen können, dann kommt der Imam zum Zug, der unseren Klienten den normalen und moderaten Koran unterrichtet.»
Daneben machen die Männer Sport und sollen eine Berufsausbildung erhalten. Der Massstab sei nicht, dass die Männer ihre Religion ablegten, sondern ihre radikale Gewaltbereitschaft.
Diese habe selten etwas mit Religion zu tun, sagt Fatima Akilu, die das Programm mitbegründete. Viele seien wütend – Religion sei die Plattform, um diese Wut rauszulassen. «Einige schliessen sich der Terrorgruppe an, weil sie keine Ausbildung haben, sich vom Staat vernachlässigt fühlen und Minderwertigkeitskomplexe haben. Einige suchen das Abenteuer. Andere sind froh, endlich ein Einkommen zu haben», sagt Akilu.
Die Motive der Terroristen
Es gebe aber auch Gründe, die wenig mit dem nigerianischen Alltag zu tun hätten: Man solidarisiere sich mit den Ereignissen in Afghanistan, in Syrien oder Palästina. «Andere werden Terroristen, um Macht ausüben zu können oder sich zu bereichern. So wie junge Menschen in anderen Teilen der Welt sich einer Gang anschliessen.» Es sei also eine zu einfache Lesart zu sagen, islamistischer Terror werde allein durch wirtschaftliche Benachteiligung ausgelöst.
Und wenn ein heiliger Krieger, der Frauen und Kinder getötet hat, plötzlich Boko Haram verlässt und ein guter Mensch werden will? Was ist dann seine Motivation? Laut Akilu haben sich viele von ihnen Boko Haram 2002 angeschlossen, als die Terror-Sekte noch von ihrem Gründer Mohammed Yusuf geleitet wurde. «Er war ein Religionsführer, der gegen soziale Ungerechtigkeit, Korruption und für eine neue Weltordnung predigte.» Seit seiner Ermordung habe sich die Ideologie verändert. Viele hätten den Eindruck gewonnen, Boko Haram sei mittlerweile eine kriminelle Organisation. Andere realisierten, dass sie einem Irrglauben folgten und von den Boko Haram-Führern missbraucht wurden.
Der Versuch, die Herzen der Krieger zu erreichen
Fest steht: In die Herzen und Köpfe von ehemaligen Islamisten zu gelangen, ist keine einfache Sache. Man weiss nie, ob man wirklich drin ist. Das Lager in der Nähe von der Hauptstadt Abuja soll in den nächsten zwei bis drei Monaten für einen Besuch zugänglich sein, erklärt der Sprecher der nigerianischen Armee, General Abubakar, gegenüber SRF News am Telefon. Zurzeit seien die Herzen der Kämpfer noch nicht weich genug.