«Willkommen in Ägypten, das an einem Tag am Rande des Zusammenbruchs steht und wo am nächsten Tag alle wieder bei der Arbeit sind», kommentiert ein Blogger die jüngste Eskalation in dem Land am Nil.
Zwei Jahre nach dem Sturz von Machthaber Husni Mubarak sind sich die Ägypter noch immer nicht einig, wohin nach ihrer Revolution der Weg gehen soll. Das Land kommt nicht zur Ruhe, denn jede Gruppe hat ihre eigenen Interessen: Radikale Islamisten wollen einen Gottesstaat. Die regierende Muslimbruderschaft mit ihrem Präsidenten Mohammed Mursi will vor allem an der Macht bleiben. Die Opposition wiederum will einen säkulären Staat, den die Mehrheit jedoch ablehnt.
Kein Wunsch nach Demokratie
Wer von aussen auf das Land schaue, sehe kaum einen Unterschied zu vor zwei Jahren, sagt SRF-Korrespondentin Iren Meier. Doch für die Ägypter selber habe sich vieles verändert: Sie hätten erfahren, dass es sich lohnt, Widerstand zu leisten.
«Der Leidensdruck nach über drei Jahrzehnten Mubarak war gross», sagt Iren Meier. Mubarak habe die Leute unterdrückt. Die alten Ägypter hätten nicht die Kraft gehabt für einen Wandel. «Die heutige Jugend aber schon.»
Doch Mubarak-Nachfolger Mursi sei genauso wenig ein Demokrat wie sein Vorgänger. «Er greift hart durch, weil er schwach ist.» Er nehme das junge Volk nicht ernst. Dieses will vor allem Sicherheit und Stabilität – die Polizei lehnt es jedoch kategorisch ab. Zu präsent sind die schmerzlichen Erinnerungen an den Mubarak-Apparat. Die Menschen wollen ein besseres Leben – doch für einen Aufbau des kaputten Landes fehlt das Geld. Auch der politische Stillstand verhindert ein Vorankommen.
Immer wieder Unglücke und Katastrophen
Dies bestätigt auch die Journalistin Astrid Frefel gegenüber SRF: Ohne stabile Politik könne sich das Mursi-Regime nicht um die Wirtschaft kümmern. Es gebe kein umfassendes Programm. Das Hauptproblem seien die hohen Subventionen. Diese würden mehr als ein Drittel des Staatshaushaltes ausmachen. Doch Reformen ziehen Opfer nach sich. Und die Opfer sind wiederum Wähler. Vorerst versuche man, mit Hilfe von Krediten aus den Golfländern und der Türkei die Löcher zu stopfen.
So entlädt sich in dem bevölkerungsreichsten arabischen Land in regelmässigen Abständen die Wut der Menschen – es gibt Krawalle und viele Tote, aber weiterhin keinen Plan. Deshalb ist nach den Protestwellen wieder alles beim alten – bis zur nächsten Explosion.
Nach wie vor stürzen Häuser ein, die illegal hochgezogen wurden. Regelmässig ereignen sich schlimme Zugunglücke, weil das Schienennetz marode ist. Gleichzeitig nimmt die Strassenkriminalität zu. Bewaffnete islamistische Milizen machen den Norden des Sinai zum gefährlichen Terrain.
Doch auch von aussen kommt Kritik: So monieren die Menschenrechtler von Human Rights Watch im aktuellen Jahresbericht, dass Oppositionelle nach wie vor mit Massnahmen aus der Mubarak-Ära verfolgt würden. Die Chance, Bürger- und Freiheitsrechte zu stärken, habe Mursi bislang ungenutzt gelassen.
Zugleich stellt Human Rights Watch eine steigende Zahl der Anklagen wegen Beleidigung und Blasphemie fest. Misshandlungen durch Polizisten blieben in der Regel straffrei, und nach wie vor würden Zivilisten vor Militärgerichten abgeurteilt.