SRF News: Die Komplementärmedizin boomt – und die Schulmedizin scheint sich in vielen Fällen schwer damit zu tun. Anders ist es nicht zu erklären, dass es Schlagzeilen wert ist, wenn einige wenige Spitäler nun auch Komplementärmedizin anbieten. Warum ist es so schwer, diesen Zweig der Medizin zu akzeptieren?
Denis Uffer: Es haben doch viele komplementärmedizinische Angebote längst ihren festen Platz in der Schulmedizin gefunden – Pflanzenmedizin oder achtsamkeitsbasierte Stressreduktion beispielsweise. Das Problem ist, dass diese guten Methoden immer hervorgehoben werden, um die gesamte Komplementärmedizin zu rechtfertigen. Fakt ist aber, viele der komplementären Methoden sind widerlegt oder noch gar nicht richtig untersucht. Mich ärgert, dass hier mit zweierlei Mass gemessen wird. Die Prüfungsmethoden für die Schulmedizin sind sehr streng, Wirksamkeit und Sicherheit muss mit aufwändigen und teuren Studien belegt werden, und das ist auch richtig so. Für die Komplementärmedizin gilt das nicht. Wenn Staat oder Krankenkassen bei einer komplementärmedizinischen Methode keinen Wirksamkeitsnachweis verlangen, kann jeder damit kommen. Am Schluss wird jede Methode vergütet, ob sie nun etwas bringt oder nicht.
Marcus Schuermann: Das sind für mich schiefe Vergleiche. Wenn ich als Pharmaunternehmen ein Medikament mit möglicherweise starken Nebenwirkungen auf den Markt bringe, dann muss man natürlich verlangen, dass es in vielen Stufen geprüft wird, um Nutzen und Risiken einzuschätzen. Im komplementärmedizinischen Bereich gibt es solche gravierenden Nebenwirkungen in der Regel nicht. Hier verlange ich, dass zumindest Anwendererfahrungen und objektivierbare Erfahrungen in kleineren Studien vorliegen, aber da ist die komplementäre Medizin zugegebenermassen nicht in allen Belangen auf der Höhe.
Aber Erfahrungen sind nicht belegbar, Zweifel an der Wirkung muss sich die Komplementärmedizin deshalb schon gefallen lassen.
Auch in der klassischen Medizin ist die Mehrheit der Behandlungsmethoden nicht evidenzgesichert.
Marcus Schuermann: Das stimmt, die Studienlage ist für viele komplementäre Methoden schlechter als für schulmedizinische. Gute Studien sind ausserhalb grosser Spitäler fast nicht möglich. Dazu braucht man eine universitäre Studienlandschaft mit grossem Fallaufkommen in einer Situation mit Patienten, die man vom Krankheitsstand vergleichen kann. Oft kann man mit den Medikamenten auch nicht das grosse Geld verdienen, das Forschungsinteresse der Pharmabranche ist entsprechend gering.
Aber um das ganz klar zu sagen: Auch in der klassischen Medizin ist die Mehrheit der Behandlungsmethoden nicht evidenzgesichert. Wenn Sie heute Privatpatient sind, werden Sie vom Chefarzt nicht nur nach Leitlinie, sondern auch nach dessen Erfahrung behandelt, und genau das schätzen Sie ja als Privatpatient. Ich habe gelernt, zu akzeptieren, dass auch etwas stimmen kann, was ich nicht nachweisen kann und mich auch einfach einmal auf Erfahrungen zu verlassen.
Denis Uffer: Ich bezweifle ja gar nicht, dass die Methoden gut tun. Die Komplementärmedizin scheint auf die Patientenzufriedenheit zu zielen, die Wirksamkeit der eigentlichen Therapie scheint nebensächlich. Mit Musiktherapie wird ja nicht der Krebs behandelt. Aber die Frage ist, wo setzen wir Grenzen? Inwiefern ist es gerechtfertigt, Wellnesstherapien von der Krankenkasse bezahlen zu lassen? Dazu, dass positive Effekte nun einmal schwer nachweisbar seien, muss ich sagen: Dann fehlt es an Einfallsvermögen. Ein Paradebeispiel ist die Psychiatrie. Hier ist es extrem schwierig nachzuweisen, ob eine Methode beispielsweise bei Depressionen wirksam ist. Aber trotzdem gibt es sehr gute Studien, die extrem aufwändig und kompliziert durchzuführen sind, aber trotzdem aussagekräftige Ergebnisse liefern.
Aber die Patienten vermissen offenbar etwas an der modernen, vielfach sehr technischen Medizin, sonst würden sie sich nicht so zu sanften Methoden hingezogen fühlen. Sie wollen als Mensch, nicht auf ihre Krankheit reduziert wahrgenommen werden.
Denis Uffer: Gegenfrage: Was tut da die Komplementärmedizin zur Sache? Nehmen wir die Reha. Hier fühlen sich viele Patienten gut aufgefangen. All die Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden behandeln den Patienten zugewandt Hand in Hand mit Pflege und Ärzteschaft. Sie machen also genau das, was die Komplementärmedizin behauptet zu machen. Das ist eine Frage der Menschen, nicht von Methoden mit zweifelhaftem Effekt.
Die klassische Medizin hat hier nach meinem Empfinden zu wenig Antworten.
Marcus Schuermann: So einfach kann man es sich nicht machen. Wir sehen, dass Patienten eine onkologische Therapie mit Komplementärmedizin länger und besser aushalten. Das ist wie mit dem Marathonläufer, der immer die Geschwindigkeit anpassen, trinken und sich erfrischen muss, um ans Ziel zu kommen. Das heisst, auch während des Laufens muss er sich erholen. Das wird mit der komplementären Medizin versucht – die Nebenwirkungen mit vielen, auch mit nicht gut erprobten Methoden zu lindern, mit dem Ziel, dass der Patient in der Therapie eine grössere Ausdauer hat. Da ist mir die komplementäre Medizin sehr willkommen, die klassische Medizin hat hier nach meinem Empfinden zu wenig Antworten.
Wer Heilsversprechen macht, trägt Verantwortung und muss die Versprechen auch halten.
Denis Uffer: Aber wenn Ärzte unbelegte Methoden anbieten, senden wir damit die Botschaft an die Öffentlichkeit, dass komplementärmedizinische Methoden legitim, anerkannt und wirksam sind. Patienten, die zusätzlich zur konventionellen Therapie Wickel von einer ihnen zugewandten Person bekommen, sind natürlich zufriedener – aber das kommt doch nicht vom Wickel, sondern von der Zuwendung. Ich finde, wer Heilsversprechen macht, trägt Verantwortung und muss die Versprechen auch halten.
Marcus Schuermann: Oft muss man aber auch etwas Neues ausprobieren, sonst kommt man weder in der Medizin noch in der Wissenschaft weiter. Schon oft hat die komplementäre Medizin etwas versucht, das wir dann in der klassischen Medizin übernommen haben, zum Beispiel das heute weit eingesetzte Vitamin D. Oder auch die Neural- oder die Ozon-Sauerstofftherapie, die durchaus wirksam, aber bis heute nicht gut erforscht und verstanden sind. Aber deshalb heisst das nicht, dass man sie nicht anwenden darf.
Das Gespräch führte Helwi Braunmiller