SRF News: Herr Reiter, als ESA-Direktor für die bemannte Raumfahrt bereiten Ihnen Nachrichten wie um den jüngst verglühten Raumfrachter sicher keine Freude?
Thomas Reiter: Nein, wahrlich nicht. Andererseits habe ich im April noch mit der Italienerin Samantha Cristoforetti telefoniert – die derzeit an Bord der ISS arbeitet – und sie gefragt, ob sie denn Heimweh habe. «Nein, eigentlich nicht», antwortet sie daraufhin. Sie würde gern noch ein paar Tage länger bleiben. Jetzt hat sie die Extra-Tage bekommen – wenn auch ganz anders als gedacht.
Das klingt jetzt noch einigermassen unterhaltsam, aber wie nimmt man als Astronaut solche Tiefschläge tatsächlich auf?
Natürlich hält man nach so einem Zwischenfall erst einmal kurz die Luft an. Aber letztlich ist man da oben in einen engen Zeitplan eingebunden. Die Aufgaben sind durchgetaktet, so dass zum Nachdenken nicht allzu viel Zeit bleibt. Zumal man ja auch immer weiss, dass genügend Redundanzen (Ersatz) vorhanden sind.
Wie gross ist der Puffer an Ersatzteilen und Nahrungsmitteln?
Theoretisch wäre auch noch ein zweiter Fehlschlag zu verkraften. Die Bevorratung ist da sehr grosszügig bemessen. Da hat man nach dem Columbia-Absturz (2001) viel gelernt, damit genau solche Fehlschläge im Ernstfall abdeckt sind.
Aber was passiert, wenn die Russen die Probleme mit ihrem Transporter nicht in den Griff bekommen? Ist dann Diät angesagt?
Nein, nein. Falls weitere Probleme auf russischer Seite absehbar sind, könnte das US-amerikanische Raumfahrtunternehmen SpaceX mit seinem Dragon-Transporter einspringen.
Und das ginge dann tatsächlich von heute auf morgen?
Natürlich nicht. Die Startpläne für die Transporter werden in der Regel ein Jahr im Voraus erstellt. Allerdings kann man den Inhalt noch bis zu sechs Wochen vorher variieren – kleine Dinge auch noch bis wenige Tage vor dem Start. Im Notfall nimmt man dann eben weniger wissenschaftliche Geräte mit nach oben und stattdessen mehr Nahrungsmittel und Treibstoff.
Gehen wir einmal davon aus, dass der nächste Transporter ankommt. Was wird er im Normalfall zur ISS bringen?
In der Regel sind das Treibstoff, Wasser – nicht nur zum Trinken sondern auch zur Sauerstoffherstellung, Sauerstoff und Stickstoff, Nahrungsmittel, Ersatzteile (zum Beispiel Luftfilter), wissenschaftliche Geräte und Proben – aber auch persönliche Dinge für die Astronauten wie zum Beispiel die Post von den Angehörigen.
Aber falls es dann wirklich einmal eng werden sollte mit Essen und Sauerstoff, was dann? Gibt es eine Notfallrakete, die innerhalb von 24 Stunden starten kann?
Nein, eine Notfallrakete gibt es nicht. Aber im Fall der Fälle könnten die Astronauten die beiden Rettungskapseln nutzen, welche ständig an der ISS angedockt sind, und mit ihnen zur Erde zurückkehren.
Auch wenn für den Ernstfall vorgesorgt ist, ein letztes Restrisiko bleibt. Warum tut man sich das dennoch an?
Noch immer lässt sich Schwerelosigkeit auf der Erde nur für Sekunden simulieren. Die Forschungen, die an Bord betrieben werden, benötigen für ihre erfolgreiche Durchführung aber Tage oder Monate der Schwerelosigkeit.
Was für Forschungen sind das genau?
Also neben der Materialforschung ist das vor allem die Humanmedizin mit Forschungen zur Osteoporose, dem Herz-Kreislaufsystem und dem Immunsystem – sowie Forschungen zur Biologie (Pflanzenkunde) und dem weiten Feld der Physik.
Vor 40, 50 Jahren träumte die Menschheit davon, Urlaub im All zu machen. Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Warum?
Zugegeben, der Weltraumtourismus ist nicht da, wo man sich das vielleicht vor ein paar Jahrzehnten erträumt hat. Das hat schlicht und einfach damit zu tun, dass der technische Aufwand, um Menschen ins All zu bringen, immer noch sehr hoch – und damit auch sehr teuer ist. Aber es gibt erste vielversprechende, kommerzielle Ansätze, Menschen zumindest an die Grenze der Atmosphäre zu bringen. Es wäre toll, wenn das gelänge.
Dann stehen wir künftig nicht mehr am Gotthard im Stau sondern am Weltraumbahnhof. Was soll daran so toll sein?
Ach, wissen Sie, ich habe die Welt schon einmal von oben gesehen, und es ist einfach überwältigend. Ich bin fest davon überzeugt, dass je mehr Menschen diesen einmaligen Blick bekommen, desto eher würde sich im Denken etwas zum Positiven wenden – vor allem hinsichtlich der Lösung unserer globalen Probleme.
Klingt ein wenig kitschig – fast zu schön, um wahr zu sein.
Mag sein, aber die Bilder sind – ich sagte es gerade – einfach überwältigend. Ich habe keinen Zweifel daran, dass das vielen Menschen helfen würde, zu erkennen, wie klein doch unsere Erde letztlich ist, und dass wir alle miteinander verbunden sind. Das würde meiner Meinung nach sehr viel bringen. Leider Gottes sind wir noch nicht so weit. Aber ich bin sicher, eines Tages wird das möglich sein. Nicht heute und nicht morgen, aber vielleicht übermorgen – wir arbeiten jedenfalls daran.
Das Gespräch führte Uwe Mai.