SRF News Online: Was kostet in der Geriatrie viel und bringt im Vergleich zu den Kosten wenig Nutzen?
Daniel Grob: Es ist teuer, Patienten vor einer Einweisung ins Pflegeheim oder vor einer grossen medizinischen Intervention nicht genügend abzuklären. Allenfalls lohnt sich zum Beispiel ein Rehabilitationsversuch vor einer Pflegeheimeinweisung. Ebenfalls teuer ist, wenn Ärzte hochbetagte Menschen nach Richtlinien behandeln, die für Jüngere gemacht sind. Allgemein kann man sagen, Ärzte müssen viel über den Patienten wissen und brauchen Erfahrung, um dann wenige, dafür die richtigen Massnahmen einzuleiten.
Ein Beispiel: Ein 90-Jähriger hat eine schwere Abnützung eines Hüftgelenks. Soll er noch operiert werden?
Bei diesem Mann klären wir zuerst ab: Wie ist sein Gesundheitszustand? Wie hoch ist seine Restlebenserwartung? Sind konservative medizinische Alternativen ausgeschöpft? Wie hoch ist sein Risiko, dass er Komplikationen hat? Wie sieht seine Wohnsituation aus? Erst dann entscheiden wir im Interesse des Patienten und im Interesse der Gesamtwirtschaft, ob eine Operation Sinn macht.
Wie gut werden solche Abklärungen in der Schweiz gemacht?
Da haben wir klar noch Nachholbedarf. In anderen Ländern gibt es spezifische Programme. Da arbeitet der geriatrische Organspezialist mit dem hauptverantwortlichen Geriater Hand in Hand. Weil Geriatrie in der Schweiz ein junges medizinisches Fachgebiet ist, fehlen uns die Fachleute. Und damit auch die entsprechenden Programme.
Gibt es Bestrebungen, dem entgegen zu wirken?
Ja, zum Beispiel im Stadtspital Waid mit dem Zentrum für Gerontotraumatologie. Oder auch die Zusammenarbeit bei der geriatrischen Urologie zwischen Triemli- und Waidspital in Zürich. Es sind aber vorerst Einzelprojekte. Das neu geschaffene «Geriatrienetz Zürich» – eine Kooperation (im Bereich Forschung und Ausbildung, Anm. der Red.) von Stadt Zürich, Universität und Universitätsspital Zürich dürfte solche Projekte erleichtern.
Nehmen wir an, bei einem 85-jährigen Patienten kann das Leben mit Interventionen für 100‘000 Franken um fünf Monate verlängert werden. Für weitere 200‘000 Franken gibt es nochmals einen Monat dazu. Ist es richtig, dass sich der Patient für die Maximalvariante mit lebensverlängernden Massnahmen entscheiden darf, selbst wenn alles mit öffentlichen Geldern finanziert wird?
Bevor ich zum Kern Ihrer Frage komme, etwas vorweg: Häufig wissen wir im Voraus nicht, wann die letzten Jahre oder Monate beginnen. Nur manchmal ist dies abschätzbar: Bei Krebserkrankungen, bei schweren Herz- oder Lungenerkrankungen etwa. Das ist ein Grund, weshalb ich nicht sehe, wie man hier von Staates wegen Grenzen setzen könnte. Ausser, man würde zu einer Altersrationierung greifen: Kein künstliches Gelenk mehr über 80, keine Dialyse mehr über 70. Dann hätten wir eine Zweiklassen-Medizin. Ich denke nicht, dass dies mehrheitsfähig ist. Eine Folge wäre unter anderem, dass sich die Gesellschaft entsolidarisieren würde.
Man könnte einwenden, Solidarität ist keine Einbahnstrasse Richtung Alter. Etwa für Familien mit knappem Budget sind die Prämien eine enorme Belastung. Müssen wir früher oder später nicht solche Rationierungen ins Auge fassen?
Die Gesundheitskosten werden auch in Zukunft steigen. Ich denke, wir müssen das Finanzierungssystem anpassen, damit es verträglicher wird für untere Einkommen. Prämienverbilligungen sind ein Stichwort, aber auch einkommensabhängige Prämien.
Als Fazit: Welche Massnahmen würden Sie empfehlen, damit die Kosten, die in der Nähe des Todes entstehen, nicht noch mehr in die Höhe schnellen?
Es braucht gut ausgebildete Ärzte und gut koordinierte Teams, um für Patient und Gesellschaft die bestmögliche Lösung zu finden. Ferner würden aktualisierte und qualitativ hochwertige Patientenverfügungen Angehörigen und Ärzten helfen, die richtige Entscheidung zu treffen. Häufig wollen Hochbetagte gar nicht, dass alles Machbare zu ihrer Lebensverlängerung unternommen wird.
Wie erleben Sie in der Regel Hochbetagte, wenn es um ihr Lebensende geht?
Vielen hochbetagten Menschen ist sehr bewusst, dass ihr Leben gelebt ist. Sie möchten nicht leiden und möglichst nicht pflegebedürftig werden. Es trifft mich, wenn ich von meinen hochbetagten Patienten und Patientinnen höre, sie würden ja nur noch kosten und sie möchten anderen nicht zur Last fallen. Die Frage ist: Gelingt es uns, für pflegebedürftige Alte eine wertschätzende Kultur zu etablieren? Letztlich kann sich eine Gesellschaft daran messen, wie sie mit alten und behinderten Menschen umgeht.
Interview: Christa Gall