Die Erdbebenüberwachung war in der Schweiz lange Zeit eine ehrenamtliche Tätigkeit. 1914 wurde der Auftrag in einem Bundesgesetz festgeschrieben und der Schweizerische Erdbebendienst (SED) als offizielle Fachstelle eingerichtet. Der SED ist heute der ETH Zürich angegliedert. SRF News Online sprach mit dem Direktor, Stefan Wiemer, Professor für Seismologie.
SRF News Online: Wie vorhersehbar sind Erdbeben heute?
Stefan Wiemer, Professor für Seismologie: Heute verstehen wir vieles. Wir kommen aber immer wieder an Grenzen. So können wir immer noch nicht sagen, ob es in ein, zwei Tagen irgendwo ein grosses Erdbeben geben wird. Wir verstehen zwar besser, warum und wo Beben eher auftreten. Aber wir können immer noch nicht die genaue Zeit und den Ort eines Bebens vorhersagen, so wie man sich das wünschen würde, um zum Beispiel Menschen evakuieren zu können. Das wäre ja eigentlich das ultimative Ziel.
Und wie vorhersehbar werden Erdbeben in Zukunft sein?
Es kann gut sein, dass Erbeben ein Phänomen bleiben, welches nie richtig vorhersehbar im Sinne einer zeitnahen Evakuation sein wird. Heute geht man davon aus, dass wir an die Grenzen der Vorhersagbarkeit gestossen sind. Anders als in anderen Wissenschaften werden Erdbeben immer eine unbekannte Komponente haben. Einen Sturm zum Beispiel sieht man auf dem Satellitenbild immer im Voraus kommen.
Man forscht natürlich immer weiter. Aber ich selber bin gespalten, ob da wirklich noch Fortschritte in Sachen Vorhersehbarkeit gemacht werden können.
Wie gefährdet ist die Schweiz?
Wir bewegen uns im Mittelfeld der Gefahrenzone. Die Schweiz unterschätzt aber die Erdbebengefahr. Erdbeben sind die grösste Naturgefahr in unserem Land. Der Gesamtschaden, den Erdbeben im Vergleich zu Lawinen oder Überschwemmungen anrichten können, ist höher, kommen aber seltener vor.
Es gibt in der Schweiz alle 50 bis 100 Jahre grosse Erdbeben, zum Beispiel 1946 in Sierre/Siders (VS). Solche Beben werden auch in Zukunft vorkommen. Man wird sich dann wieder daran erinnern, dass Erdbeben in der Schweiz auch ein grosses Schadenspotential haben.
Wird die Gefahr von Erdbeben in Zukunft ansteigen?
Die Gefahr bleibt eigentlich gleich, nur das Risiko ändert sich. Damit ist nicht die Gefährdung durch das Erdbeben selber gemeint, sondern die Gefährdung von dem, was wir oben drauf stellen. Wie viele Gebäude gibt es in der Schweiz? Wie verletzlich sind sie? Und nur darauf haben wir einen Einfluss. Das Risiko nimmt einerseits zu, weil mehr Leute in mehr Gebäuden das Land bevölkern. Aber wenn wir uns bemühen, die Gebäude besser zu bauen, dann nimmt das Schadensrisiko ab. Das liegt in unserer Hand.
2009 bebte es im italienischen L'Aquila. Über 300 Menschen starben. In der Folge wurden Erdbebenforscher zu langen Haftstrafen verurteilt. Wie haben sich diese Urteile auf die Erdbebenforschung ausgewirkt?
In Wissenschaftlerkreisen wird noch viel darüber geredet. Wir versuchen vermehrt, unser Wissen und speziell die Grenzen unseres Wissens zu vermitteln. Wir versuchen uns möglichst präzise auszudrücken, um Vereinfachungen vorzubeugen, die zu falschen Schlüsse führen.
Es gibt aber auch menschengemachte Erdbeben. Stichwort Fracking: Wie gross ist die Gefahr? Wie reagiert der Erdbebendienst auf diese Entwicklung?
Fracking ist für uns in den letzten zwei bis drei Jahren immer aktueller geworden. In den USA ist das Thema sehr dominant. Die meist grösseren Erdbeben passieren dort, weil man das beim Fracking entstehende Abwasser in den Untergrund presst. In der Regel bewegt man sich aber beim Fracking sehr flach unter dem Boden und in Sedimenten. So sind eigentlich nur Mikrobeben die Folge.
Allgemein sind Beben beim Fracking ein Problem, aber ein kleineres und beherrschbares. Das ist unser Eindruck im Moment.
Wo sehen sie die Erbebenforschung in 100 Jahren?
Wir werden jederzeit wissen, in welchem Zustand sich die Erde gerade befindet, wo es gerade schüttelt und wie die Gebäude darauf reagieren. Und unsere Smartphone-ähnlichen Mobilgeräte mit Sensoren werden uns genau in dem Moment sagen, wie wir uns verhalten und reagieren sollen. Sie werden uns die Entscheidungen abnehmen.