Wenn ein Kind mit uneindeutigem Geschlecht zur Welt kommt, wird heute meist nicht mehr überstürzt operiert. Eine einheitliche Praxis gibt es in der Schweiz aber derzeit nicht. Das möchte die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) ändern. Erläuterungen von SAMW-Generalsekretär Hermann Amstad.
SRF News: Was ist das längerfristige Ziel der Empfehlungen?
Hermann Amstad: Seit 15 oder 20 Jahren haben Menschen, die im frühen Kindesalter operiert wurden, begonnen, sich zu wehren. Das hat überhaupt erst dazu geführt, dass das Problem erkannt wurde. Es ist wichtig, dass jeder Fall dokumentiert wird, so dass wir in 20 Jahren nochmals weiter sind.
Organisationen von Betroffenen betonen das Recht auf Selbstbestimmung. Sollen operative Eingriffe künftig möglichst spät oder gar nicht mehr erfolgen?
Die Entwicklung geht heute in die Richtung, dass man Eingriffe, die irreversibel sind, so spät als möglich vornimmt. Umso mehr braucht es natürlich eine gute Betreuung der betroffenen Menschen. Spätestens in der Pubertät sind sie damit konfrontiert, dass sie möglicherweise «anders» sind. Es geht darum, ihnen zu helfen, für sich die richtige Entscheidung zu treffen.
Heute müssen Eltern den Zivilstandsbehörden innert drei Tagen mitteilen, welches Geschlecht ihr Kind hat. Die Akademie möchte eine Frist von dreissig Tagen. Reicht das?
Die dreissig Tage erlauben es, in einer gewissen Ruhe mit den Eltern erste Abklärungen zu machen, die Probleme zu besprechen und zu einer ersten Lösung zu kommen. Auch später ist es aber noch möglich, mit einer Meldung ans Zivilstandsamt und einer medizinischen Begründung das Geschlecht zu ändern.
Weiter empfehlen Sie, die Finanzierung der Begleitung der Eltern sicherzustellen. Werden die Eltern heute allein gelassen?
Die Eltern bekommen schon heute psychosoziale Beratung. Diese wird aber im Moment explizit nicht von der Krankenkasse bezahlt. Hier braucht es sicher eine Anpassung.
Bisher vertrat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften die Ansicht, es brauche keine Richtlinien, weil es nur wenige Fälle gebe. Nun machen Sie Empfehlungen. Was erhoffen Sie sich davon?
Es ist nicht genau bekannt, wie viele Kinder genau betroffen sind. Es braucht vor allem fachliche Richtlinien, wie man in einem solchen Fall vorgehen soll. Einerseits gibt es auf internationaler Ebene Konsensus-Papiere. Andererseits sind auch die Fachgesellschaften gefragt, Leitlinien zu erarbeiten, etwa die Gesellschaft für Gynäkologie oder jene für Kinderchirurgie.
Heute gibt es zwischen den einzelnen Spitälern keine einheitliche Praxis. Erhoffen Sie sich durch die Empfehlungen eine Vereinheitlichung?
Amstad: Eine der Empfehlungen ist, dass die Betreuung von Menschen mit uneindeutigem Geschlecht an Zentren stattfinden sollte. Wie nach der Geburt vorgegangen wird, sollte nicht davon abhängen, in welchem Spital ein Kind geboren wird.
Das Gespräch führte Christine Wanner.