Nun ist es traurige Gewissheit: Eine junge Genfer Therapeutin hat ihr Leben verloren. Als mutmasslicher Täter kommt ein verurteilter Vergewaltiger in Frage. Er ist nach wie vor flüchtig.
Täter mit schweren Persönlichkeitsstörungen
«La Pâquerette» ist eine schweizweit einzigartige Einrichtung zur Betreuung von Gefangenen mit langen Haftstrafen. Sie liegt auf einem Stockwerk des Gefängnisses Champ-Dollon in Genf. Die Insassen leiden an schweren Persönlichkeitsstörungen, gelten aber als resozialisierbar. Sie werden als verantwortliche Wesen betrachtet, die im Stande sind, sich weiter zu entwickeln. Was lief in «La Pâquerette» falsch?
Für den Strafvollzugsexperten Benjamin F. Brägger wurde in der Einrichtung lediglich das Gesetz eingehalten. Denn: Dieses schreibe das Normalitätsprinzip vor. «Das besagt: Die Welt im Gefängnis soll die Welt draussen abbilden – und die Welt draussen besteht nun mal nicht nur aus Männern.»
Gerade Frauen hätten einen anderen Zugang, brächten eine andere Qualität der Wahrnehmung in die Evaluierung und Beobachtung von Straftätern. Es brauche beide. «Frauen sind für den Anstaltsalltag wichtig.»
Allerdings: Jemand der gefährlich sei, dürfe nicht Freigang haben oder dann nur mit Polizeieskorte. Ein wirklich gefährlicher Täter dürfe die Anstalt nicht verlassen. «Da sind in der Bewertung der Gefährlichkeit vermutlich gewisse Fehler begangen worden.»
Es könne jedoch sein, dass der Sexualstraftäter sich verstellt habe. «Gerade schwere Gewalt- und Sexualdelinquenten haben oft manipulative Züge», führt Brügger aus.
Nähe-Distanz-Problem in der Therapie
Die Einrichtung «La Pâquerette» funktioniert nach dem Modell einer therapeutischen Gemeinschaft und lehrt die Insassen, wieder in der Gesellschaft zu leben. Dabei müssen die Therapeuten laut Brägger eine Beziehung zum Straftäter aufbauen, sonst kann die Therapie nicht erfolgreich durchgeführt werden. Hier gebe es die sogenannte Nähe-Distanz-Problematik zu berücksichtigen. «Man muss dem Täter Empathie entgegenbringen, aber man darf nie die professionelle Distanz und Analyse verlieren. Das ist eine Gratwanderung, die nicht immer ganz einfach ist», führt der Experte aus.
Eine erfolgreiche Behandlung hänge deshalb von drei zentralen Elementen ab: Supervision, Führung und Kontrolle. Bei der Supervision müssten die Therapeuten selbst mit einer Fachkraft über die Therapie sprechen. Die Therapieleitung müsse zweitens ein spezielles Augenmerk auf die Nähe zwischen Therapeut und Täter richten und dies immer wieder kontrollieren. «Das ist die professionelle Antwort auf die Nähe-Distanz-Problematik.»