Renata Bleichenbacher bezeichnet es als «unterlassene Hilfeleistung»: Sie war in einer schweren psychischen Krise, hegte Selbstmordgedanken und sass einem ausländischen Psychiater gegenüber, der sie nicht verstand.
Laut Thomas Ihde, selbst Psychiater und Präsident der Patientenorganisation Pro Mente Sana, kein Einzelfall: «Wir hören von Betroffenen am Beratungstelefon immer wieder, dass sie sich von ihren Therapeuten rein sprachlich nicht verstanden fühlten.» Was auch dazu führe, dass sich Betroffene im Gespräch nicht öffnen.
Tatsächlich: Die Chance auf eine Fachperson zu treffen, die aus dem Ausland zugezogen ist, liegt mittlerweile bei rund 50 Prozent. Und der Anteil der ausländischen Psychiater wird in den kommenden Jahren noch weiter zunehmen. Das zeigt eine Auswertung von «Puls» mit aktuellen Daten des Medizinalberuferegisters MedReg des Bundes.
Im MedReg sind alle in der Schweiz anerkannten Arztdiplome registriert, auch der Facharzttitel «Psychiatrie und Psychotherapie». Die Analyse der jährlichen Neuzulassungen zeigt, dass sich der Anteil der Personen, die ihr Medizinstudium (Arztdiplom) in der Schweiz gemacht haben, in den letzten 10 Jahren von 42 auf noch 19 Prozent im Jahr 2019 reduziert hat.
Heisst: Rund 80 Prozent der in den letzten Jahren neu zugelassenen Fachärztinnen und Fachärzte in Psychiatrie haben ihre Grundausbildung nicht in der Schweiz gemacht.
Für Thomas Ihde ist diese Entwicklung bedenklich. In seinem Fach seien die Sprache und das kulturelle Verständnis zentral. Gerade wenn es darum gehe, zwischen den Zeilen zu lesen und im Dialekt mit Patienten zu kommunizieren.
Erich Seifritz von der Vereinigung der Psychiatrischen Chefärzte SVPC sieht darin weniger ein Problem. Ärztinnen und Ärzte aus dem Ausland müssten ja bereits bei Beginn ihrer Tätigkeit in der Schweiz notwendige Sprachkenntnisse nachweisen. Sie würden sich rasch integrieren und rasch auch Dialekt verstehen.
Integrierte Versorgung als Lösung?
Der starke Zuzug von ausländischen Fachärzten erstaunt. Hat die Schweiz im internationalen Vergleich doch bereits eine sehr hohe Psychiaterdichte.
Thomas Ihde bezeichnet das hiesige Versorgungssystem als «sehr ärztezentriert». Als Chefarzt der Psychiatrischen Dienste am Spital Interlaken setzt er vermehrt auf den Einbezug von Psychologen und erfahrenen Fachkräften und stellt dafür weniger Psychiater an, die er aus dem Ausland rekrutieren müsste. Er orientiert sich dabei an Versorgungsmodellen wie in Holland oder skandinavischen Ländern.
Als Folge des Mangels an Fachärzten sind laut Erich Seifritz die meisten Kliniken daran, neue Zusammenarbeitsmodelle zu entwickeln. Man habe begonnen, Psychologen und anderen Berufsgruppen mehr Aufgaben und Kompetenzen zu übertragen. Allerdings seien noch rechtliche und tarifarische Aspekte zu klären. Es brauche auch Anpassungen bei der Weiterbildung.
Die Diskussionen um eine integrierte Versorgung werden bereits seit Jahren geführt. Bewegt hat sich bisher, ausser an einzelnen Kliniken, noch wenig. Die ehemalige Patientin Renata Bleichenberger findet die jetzige Situation unhaltbar. Auch psychisch Kranke verdienten eine optimale Versorgung. Dazu gehöre, seine inneren Nöte in der Muttersprache auszudrücken.
Tagesschau am Mittag, 17.02.2020, 12:45