Ein Häftling stirbt in Folge seines Hungerstreiks - so geschehen diese Woche in Baar. Alles verlief rechtens, erklärte Strafrechtsprofessorin Brigitta Tag gegenüber «Schweiz aktuell». Im Kanton Zug gelte, dass keine lebenserhaltenden Massnahmen angewendet werden dürfen, wenn der Betroffene eine Patientenverfügung erlassen hat.
Abwehrrecht als höchstes Recht
Dies sei aus ethischer Sicht nachvollziehbar, sagt Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin des Instituts Dialog Ethik, gegenüber «SRF News Online». In der Schweiz gelte jede medizinische Behandlung als Körperverletzung. «Wer jemanden behandeln will, braucht dessen Zustimmung.»
Im Rahmen des Erwachsenenschutzgesetzes, das Anfang 2013 in Kraft trat, werde das Abwehrrecht des Urteilsfähigen höher gewichtet als die Pflicht zur Lebenserhaltung – sofern die betreffende Person keine Fremdgefährdung darstelle, so die Ethikerin. Damit soll gewährleistet sein, dass das Individuum gegenüber staatlichen Zwängen geschützt sei.
Das Individuum hat dadurch sogar die Freiheit zur Selbstschädigung. Andernfalls könnten zum Beispiel Menschen, die höhere Risiken eingehen – Rauchen oder Töfffahren etwa –gezwungen werden, im Namen des Lebensschutzes diese Tätigkeiten aufgeben zu müssen. Dieses Abwehrrecht sei eines der höchsten Errungenschaften der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg.
Fürsorgepflicht des Staates vs. Sterbewunsch des Individuums
Im Fall des Hanfbauern Rappaz hatte aber das Bundesgericht 2010 die Behörden in ihrem Vorhaben gestützt, den Inhaftierten zwangszuernähren. Begründung: «Nötigenfalls ist durch die Vollzugsbehörde eine Zwangsernährung anzuordnen, sofern eine bleibende Schädigung oder der Tod des Beschwerdeführers nicht anders abzuwenden ist», heisst es in der Medienmitteilung des Bundesgerichts (BG) vom 26. August 2010 zu einer Beschwerde Rappaz‘ gegen die Zwangsernährung.
Allerdings hielt das Bundesgericht auch fest, dass im Falle der Zwangsernährung das kantonale Recht geltend sei. «Kantone können strengere Regeln erlassen, als der Bund», so Baumann-Hölzle. Strenger hiesse hier: im Sinne des Abwehrrechts des Patienten, nicht der Lebenserhaltung durch die Behörden.
Erst kürzlich wies nun auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Beschwerde Rappaz‘ gegen die Zwangsernährung ab. Und stützte damit das Bundesgericht. Der Staat muss gemäss dieser Auslegungsweise einen Menschen im Sinne der Fürsorgepflicht zwangsernähren können.
«Das ist aber nicht nachvollziehbar», meint Ethikerin Baumann-Hölzle. Zwangsernährung eines Urteilsfähigen mit einer Patientenverfügung, in der er die Zwangsernährung explizit ablehnt, sei eine Grundrechtsverletzung.
«Es besteht ein ethisches Spannungsfeld und manchmal auch Dilemma zwischen der Aufgabe des Staates, das ‹Abwehrrecht zu respektieren› und ‹das Leben zu schützen›.» Würde das Abwehrrecht aber relativiert, würde das sogar heissen, dass sich ein Arzt nicht einmal an explizite Zurückweisungen in Patientenverfügung halten müsste und damit gegen den Willen des Patienten handeln dürfte. Dies stellte einen grossen Rückschritt bei der Wahrung der Patientenautonomie und dem Schutz der Integrität eines Menschen überhaupt dar, so Baumann-Hölzle.
Fall Rappaz könnte sich wiederholen
«Diese Diskrepanz besteht tatsächlich», bestätigt Strafrechtsprofessorin Brigitte Tag. Allerdings nur in Kantonen, welche noch keine Regelung zum Umgang mit Hungerstreik beim Strafvollzug erlassen hätten. Zug hat eine solche Regelung, viele andere aber noch nicht.
Darum habe das Bundesgericht nach dem Fall Rappaz die Behörden aufgefordert, diesbezügliche Regelungen zu erlassen. «Am besten wäre eine eidgenössische Regelung – doch im Parlament sind schon mehrere Initiativen dazu gescheitert», so Tag. Und noch hätten lange nicht alle Kantone ein Regelwerk erlassen. Die Geschichte könnte sich also wiederholen.