Noch führt die körperlich schwer behinderte Johanna Ott ein Leben wie andere Menschen auch: Sie fährt Tram, tanzt im Ausgang und schreibt Gedichte. Doch jetzt besteht die Gefahr, dass sie in ein Heim zwangseingewiesen wird: Die IV hat der 30-Jährigen die finanzielle Hilfe um über einen Drittel gekürzt, wie die «Rundschau» zeigt. Dabei sollte der sogenannte Assistenzbeitrag das Gegenteil erreichen.
Die neue Leistung der IV ist seit letztem Jahr in Kraft und soll Behinderten ein selbstbestimmtes Leben ausserhalb eines Heimes ermöglichen. Mit diesem Geld können Behinderte eigene Betreuungspersonen beschäftigen.
500 Behinderte profitieren bereits von dem neuen Lebensmodell. In Zukunft sollen 3000 mit Hilfe von Assistenten daheim unabhängig leben können. Das soll die IV pro Jahr nicht mehr als 60 Millionen Franken kosten. «Eine Begrenzung des Assistenzbeitrages war ganz klar ein Anliegen im Parlament», sagt Peter Eberhard vom Bundesamt für Sozialversicherungen.
Notdurft nach Minuten
Zur Kostenkontrolle hat die IV ein kompliziertes Abklärungsinstrument geschaffen. Dieses sieht für jede alltägliche Verrichtung – wie etwa Zähneputzen oder die Notdurft – eine bestimmte Anzahl Minuten pro Tag vor. Die jeweiligen Handlungen werden dann in Franken und Rappen umrechnet.
Ein Beispiel: Johanna hat ihren Körper nicht unter Kontrolle und isst langsam. Für die drei täglichen Mahlzeiten braucht sie 150 Minuten. Die IV gewährt ihr nur 80.
2 Minuten zum Essen – Wie die IV Assistenzbeiträge berechnet
«Schneller essen geht nicht», sagt Johanna Ott. Für sie sind solche Zeitbegrenzungen eine «Katastrophe».
Die IV limitiert den Betreuungsbedarf auf 8 Stunden pro Tag. Von dieser Zeit werden ausserdem noch Leistungen der Spitex und die Hilflosenentschädigung abgezogen. Doch Johanna Ott braucht während täglich 16 Stunden Assistenz. Ohne Betreuung ist sie völlig hilflos.
IV kürzt Hilfe um einen Drittel
Der Widerspruch: In den letzten sechs Jahren war Johanna Ott Teil des Pilotversuches zum «Assistenzbeitrag». Die Pilotphase war finanziell grosszügiger bemessen und Johanna konnte sich ein funktionierendes Netz von sechs Teilzeit arbeitenden Assistenten aufbauen.
Anfangs Jahr hat ihr die IV die Hilfe um 35 Prozent gekürzt: Sie bekommt noch 94‘000 Franken. Das tönt nach viel, reicht aber nicht, um mehr als 300 Stellenprozente zu finanzieren.
Ihre Mutter Adelheid Arndt übt Kritik: «Sechs Jahre konnte sich Johanna ihre Betreuung einigermassen organisieren. Nun werden die Gelder so dramatisch gekürzt, dass wir eigentlich aufhören müssen.»
Peter Wehrli von der Behindertenorganisation «Zentrum für selbstbestimmtes Leben» hat sich jahrelang für die Einführung des Assistenzbedarfs eingesetzt. Die gesetzliche Umsetzung frustriert ihn: «Durch die zeitlichen Limiten benachteiligt der Assistenzbeitrag Behinderte mit einem hohen Betreuungsbedarf.»
Teurer Heimplatz
Ein Heimplatz würde in Johannas Fall 700 bis 1000 Franken pro Tag kosten. Das wäre für die IV zwar günstiger, weil andere Kostenträger wie Kantone und Krankenkassen ins Spiel kämen. «Aber die Gesellschaft», sagt Wehrli, «spart überhaupt kein Geld. Denn ein Heimplatz ist sehr viel teurer.»
Johanna Ott war schon einmal in einem Heim, dort hatte niemand richtig Zeit für sie. Nun reicht ihre Juristin, Irene Rohrbach, Beschwerde ein beim Zürcher Sozialversicherungsgericht: «Der Gesetzgeber wollte mit dem Assistenzbeitrag Heimeintritte verhindern», sagt Irene Rohrbach. «Die IV setzt das Gesetz nicht korrekt um. Sie darf den Betreuungsbedarf nicht zeitlich limitieren.»
Bis der Präzedenzfall entschieden ist, vergehen Jahre. Wie Johanna Ott diese Zeit finanziell überstehen soll, ist ungewiss. «Verzweiflung, Wut, Ohnmacht», umschreibt Mutter Adelheid Arndt die Gefühle. «Am schlimmsten ist, wenn ich sehe, dass auch Johanna Angst bekommt. Angst vor der Zukunft.»