Das Urteil der kleinen Kammer des Menschenrechtsgerichtshofs sei «sonderbar», stellt der Historiker Georg Kreis fest: «Es geht fraglos um eine sehr komplexe Frage. Meines Erachtens waren aber die Richter nicht auf der Höhe ihrer Aufgabe.»
Kreis betont, dass eine Kollision unausweichlich ist, wenn die freie Meinungsäusserung gegen den Schutz vor diffamierendem Leugnen eines Massenmords oder Genozids gestellt werde: «Würde man sich aber ausschliesslich auf die Meinungsfreiheit beziehen, könnte ein grosser Teil von Verleumdungen gar nicht mehr als strafbar eingestuft werden.»
Kreis: Offenkundige Absichten von Perincek
Im konkreten Fall hätte die Strassburger Kammer laut Kreis erkennen müssen, dass Perincek für politische Polemik in die Schweiz gereist war: «Perincek wollte schauen, wie weit er in der Provokation der Armenier und des Schweizer Rechtssystems gehen kann.»
Der Auftritt habe denn auch zur Verschärfung des latenten Gegensatzes zwischen nationalen Türken und Armeniern beigetragen. Von beiden Gemeinschaften lebten Menschen in der Schweiz. Es sei wohl kaum im Interesse der Schweiz, Brandstifter zu schützen. «Da geht es dann nicht mehr um Meinungsfreiheit», betont Kreis.
Diffamierungsschutz bei Rassismus in Gefahr
Laut Kreis geht es hier nicht primär um eine historische Frage, sondern um Fragen der aktuellen Politik. Entsprechend müssten bei der Beurteilung eines solchen Falles auch die gesellschaftspolitischen Prinzipien berücksichtigt werden. «Das scheint die kleine Kammer von Strassburg in diesem Fall gerade nicht gemacht zu haben.»
Kreis, der bis Ende 2011 Präsident der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus war, begrüsst denn auch, dass die Schweiz bei der grossen Kammer appellieren wird. Aus rechtlichen Gründen, damit man sich vertieft mit der Problematik auseinandersetze. Aber auch aus gesellschaftspolitischen Gründen dürfe ein Urteil nicht einfach akzeptiert werden, das den Diffamierungsschutz bei Rassismus in Frage stelle.