SRF News: Welche Aussage zum Mörder von Rupperswil hat Sie denn in den letzten Tagen besonders befremdet?
Jérôme Endrass: Als ich gelesen habe, dass man sich fragt, ob es möglich ist, aufgrund von Gesichtsmerkmalen irgendetwas über den Täter selber sagen zu können. Das fand ich sehr befremdend.
Kann man aus diesen Merkmalen gar nichts schliessen?
Es gibt keine validen Befunde, die das erlauben würden. Man kann nicht aufgrund von irgendwelchen Nasenfalten, Augenstellungen oder Schädelformen Rückschlüsse auf die Persönlichkeit oder auf Störungen eines Menschen ziehen.
Andererseits stellt sich die halbe Schweiz die Frage, was einen Menschen zu so einer grausamen Tat antreibt. Gibt es keine Antworten, die Forensiker geben können?
Es ist schwierig, etwas wissenschaftlich Fundiertes dazu sagen zu können. Im aktuellen Fall ist es besonders schwierig, weil es sich um einen Extremfall handelt. Aber ich denke, Forensiker können einen Informationsbeitrag leisten. Der Fokus muss darauf liegen, dass man hilft, die Tat einzuordnen, um das Ganze vielleicht ein Stück weit besser begreifen zu können. Wenn man das im Sinne einer Aufklärung und Hilfestellung tut, ist es sicher eine sehr gute Sache. Diese Grenze zwischen Aufklärung und Ferndiagnose ist allerdings ein schmaler Grat. Als Fachperson muss man höllisch aufpassen, dass man nicht verleitet wird, ins Spekulative abzurutschen – etwa wenn ein Journalist anruft und ein Zitat will.
Die psychische Verfassung eines Täters und seine Schuldfähigkeit sind auch strafrechtlich relevant. Wie problematisch sind solche Ferndiagnosen in den Medien aus dieser Perspektive?
Ich denke, Ferndiagnosen werden nie wirklich ernst genommen. Die Erstellung eines Gutachtens dauert Monate. Experten analysieren und untersuchen die Person mehrfach und arbeiten sich durch umfangreiches Aktenmaterial durch, besprechen sich mit Kollegen. Das sind sehr schwierige und langwierige Prozesse. Ein spontanes Statement, das man aufgrund dessen abgibt, was man gehört hat ohne selber mit der Person gesprochen zu haben, läuft auf einem anderen Niveau ab und muss anders eingeordnet werden.
Forensische Psychologen wie Sie spielen ihre Hauptrolle in der Justiz eher hinter den Kulissen – etwa bei den Ermittlungen. Wie können Psychologen vor der Verhaftung eines solchen Täters helfen?
Polizeipsychologen unterstützen Polizisten, indem sie Profile erstellen und versuchen, gewisse Sachverhalte aus einer psychologischen Perspektive zu rekonstruieren. Am meisten werden sie aber die Polizisten selber, die mit so schrecklichen Fällen betraut sind, betreuen. Der klassische forensische Psychologe tritt eher dann auf, wenn es zu einer Verurteilung gekommen ist. Wenn es darum geht, die Person zu behandeln, um das Rückfallrisiko zu senken. Und wenn die Frage gestellt wird, ob diese Person aus dem Justizvollzug entlassen werden kann.