Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Schweiz betraf eine afghanische Familie, die 2011 über Italien in die EU eingereist war. Im gleichen Jahr stellte sie in der Schweiz einen Asylantrag. Die Schweizer Behörden gingen unter Hinweis auf das Dublin-Abkommen nicht darauf ein.
Gegen die drohende Überstellung nach Italien beschwerte sich die Familie. Sie machte insbesondere geltend, dass die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien mangelhaft seien. Dies verstosse unter anderem gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen (EMRK).
Individuelle Garantien angemahnt
Nun entschied die Grosse Kammer des Gerichtshofs zwar, dass eine Abschiebung der Flüchtlingsfamilie nach Italien aufgrund der prekären Lage im italienischen Asylwesen tatsächlich mit Artikel 3 der EMRK unvereinbar sei. Doch dies sei nur der Fall, wenn die Familie ohne individuelle Garantien ohne individuelle Garantien nach Italien überstellt werde.
Diesbezüglich wirft das Gericht den Schweizer Behörden vor, nicht genügend Zusicherungen besessen zu haben, was eine dem Alter der Kinder angemessene Betreuung betrifft. Insbesondere fehlten aber detaillierte und verlässliche Angaben über die gemeinsame Unterbringung der Familie in Italien. Die Schweiz muss diese Garantien nun beibringen und kann dann die afghanische Familie nach Italien überstellen.
«Dublin-System ist angeschlagen, aber nicht völlig eingestürzt»
Grosse Auswirkungen durch das Urteil seien für die Schweiz nicht zu erwarten, sagt Alberto Achermann, Assistenzprofessor für Migrationsrecht an der Universität Bern, in einer ersten Einschätzung. «Die Schweiz muss aber in bestimmten Situationen genauer abklären.» Es werde jetzt auch vom Flüchtlingsamt abhängen, wie das Urteil vernünftig umgesetzt werden könne.
Gravierend wären die Folgen gewesen, wenn der Gerichtshof die Aufnahmebedingungen in Italien als so schlecht taxiert hätte, dass Rückführungen nur noch in Ausnahmefällen möglich gewesen wären. Dies sei etwa der Fall bei Griechenland, wo ein ausnahmsloser Rückschiebestopp gelte, ausser eine Person verfüge dort über ein stabiles Netz. Dies sei aber dem aktuellen Urteil nicht zu entnehmen.
«Das Dublin-System ist angeschlagen, aber nicht völlig eingestürzt», fasst Achermann die Ausgangslage zusammen. Er begründet diese Aussage mit den Urteilen betreffend Griechenland. Ebenso mit gewissen Urteilen in Deutschland betreffend Malta und Ungarn – und auch ein bisschen mit dem jüngsten Urteil zur Schweiz.