In der Schweiz ist dieses historische Ereignis unbestritten: Zwischen 1915 und 1917 beging das Osmanische Reich den Genozid an 1,5 Millionen Armeniern. Dies jedoch sah Dogu Perincek, Präsident der türkischen Arbeiterpartei, anders. 90 Jahre nach dem Völkermord bezeichnete er die Tragödie während den Reden in Opfikon, Köniz und Lausanne als «internationale Lüge». Die Folge: eine Klage wegen Rassendiskriminierung.
Heute, acht Jahre später, kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg zu folgendem Schluss: Die Schweiz hat das in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Recht auf freie Meinungsäusserung verletzt.
«Das Gericht betont, das Recht auf freie Meinungsäusserung sei ein sehr grundlegendes Recht in demokratischen Gesellschaften ist», sagt SRF-Frankreich Korrespondent Ruedi Mäder. Das Recht auf freie Meinungsäusserung unterscheide demokratische und pluralistische Gesellschaften von diktatorischen und totalitären Regimen.
Das Gericht definiert Genozid
Einerseits gewichte der Menschenrechtshof dieses Recht sehr stark, andererseits fasse es den Begriff Genozid sehr eng, sagt Mäder.
Es reiche nicht, wenn Personen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit Opfer von Verfolgung würden, sondern es müsse das Ziel dieser Verfolgung sein, eine ethnische Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten, damit man von einem Genozid sprechen könne.
Das Gericht selbst nimmt keine Wertung des Verbrechnens an den Armeniern vor. Es macht aber einen Unterschied zum Holocaust. Im Falle des Holocaust gebe es einen internationalen Konsens. Dies ist bei der Verfolgung der Armenier anders; nur 20 von 190 Ländern stellen die Leugnung dieses Genozids unter Strafe, hielt das Gericht fest.
Perincek gegen Schweizer Urteile
Es ist das erste Mal, dass sich der Gerichtshof zur Leugnung des Genozids an den Armeniern äussert. So weit kam es, weil Schweizer Gerichte bisher sämtliche Rekurse des Türken abgelehnt haben.
2007 verurteilte bereits das Strafgericht des Bezirks Lausanne Perincek zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 100 Franken. Hinzu kamen 3000 Franken Busse. Darüber hinaus verdonnerte es ihn zu einer Zahlung von 1000 Franken an die Gesellschaft Schweiz-Armenien.
Weiterzug möglich
Noch im selben Jahr folgte das Waadtländer Kantonsgericht dem Lausanner Verdikt. Eine Klage Perinceks liess das Bundesgericht abblitzen. Die Schweiz kann das Urteil an die grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs weiterziehen.
«Das Urteil ist mehr als 50 Seiten lang, und es ist gut möglich, dass sie dieses Urteil weiterzieht», sagt Mäder. «Angesichts der Brisanz des Falles wäre das nicht überraschend.» Das allein würde aber noch nicht bedeuten, dass es zu eine neuen Verfahren kommen würde. Dazu käme es erst, wenn der entsprechende Ausschuss in Strassburg der Meinung ist, es lohne sich, diesen Fall in einer grösseren Zusammensetzung des Gerichts nochmals zu prüfen.