Am Nachmittag des 9. Dezember 1755 zittert im Oberwallis die Erde. Die Erschütterungen, die vom Epizentrum bei Brig ausgehen, sind derart heftig, dass sie weit über die Schweiz hinaus wahrgenommen werden. Chronisten in Nürnberg, Metz oder im Piemont berichten über das Beben, noch bis nach Spanien soll es zu spüren gewesen sein. Nur wenige Wochen, nachdem die Weltmetropole Lissabon von einem Jahrtausendbeben mit anschliessendem Tsunami fast vollständig zerstört wurde, scheint die Apokalypse ihre Fortsetzung zu finden.
In Bern lassen die Erschütterungen die Glocken der Kirchen läuten, in Basel laufen die Menschen panikerfüllt auf die Strassen. Der Rektor des Jesuitenkollegs in Brig schildert, wie sich Spalten in der Erde öffnen, sich neue Wasserquellen Bahn brechen und die Menschen in eisiger Kälte im Freien übernachten.
«Endlich schien das ganze Wallis unterzugehen. Die Erde zitterte und brüllte schrecklich auf. Mit einem heftigen Stoss (der den Zeitraum von zwei Vaterunser dauerte) begann sie alle Gebäude zu erschüttern, dass es schien, dass alles kopfüber umstürzte. Fast alle Kirchen erhielten in beklagenswertem Ausmass sehr grosse Risse, die Türme klafften, nicht wenige Mauern stürzten ein. Es war eine besondere Gnade Gottes, dass im dichten Hagel von fallenden Steinen alle heil und gesund davonkamen.»
Die verheerenden Erdbeben erschütterten den Vernunftglauben der Aufklärer schwer, den seismologischen folgten literarische Beunruhigungen. «Die Weisen und Schriftgelehrten konnten sich nicht vereinigen, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe», schrieb Johann Wolfgang von Goethe noch 1811 in «Dichtung und Wahrheit».
Erfolgreicher waren die Geistlichen, auch in der Schweiz. In ihren Predigten geisselten sie die Sünder und ihre Verfehlungen: die göttliche Allmacht zeige sich in Urkatastrophen wie in Brig, Gottes Barmherzigkeit darin, dass im Sündenpfuhl Lissabon zehntausende Menschen starben, die bussfertigen Schweizer aber verschont blieben.
Das Erdbebenland Schweiz
Über 250 Jahre später kommt Stefan Wiemer, Direktor des Schweizerischen Erdbebendienstes (SED), bei «10vor10» zu einer nüchterneren, aber durchaus beunruhigenden Einschätzung: «Erdbeben sind in der Schweiz eine reale Bedrohung. Von vielen werden sie aber nicht als solche wahrgenommen.»
Auch, weil das letzte schwere Beben von «katastrophaler Grösse» – am 25.1.1946 im Mittelwallis – mittlerweile 70 Jahre zurückliege. Es fand schon damals – trotz erheblicher Sachschäden, vier Todesopfern, Bergstürzen und Lawinenniedergängen – vergleichsweise wenig Resonanz. Die Schrecken und Entbehrungen des Zweiten Weltkrieges liessen vieles verblassen.
Traurige Aktualität erhielt das Thema vor wenigen Wochen. Bei einem Erdbeben der Stärke 6.2 auf der Richterskala starben in Mittelitalien fast 300 Menschen. Auf Anfrage bestätigt der Schweizerische Erdbebendienst, dass sich auch in der Schweiz «jederzeit grössere Beben ereignen können. (...) Ein Beben mit einer Magnitude (wie in Accumoli) ist in der Schweiz alle 50 bis 150 Jahre zu erwarten.»
Ein «Amatrice» in der Schweiz?
Dessen Auswirkungen hängen, wie der SED ausführt, vom Epizentrum des Bebens und dessen Tiefe ab: «Je näher an einer dichtbesiedelten Region sich ein Beben ereignet und je weniger tief im Erduntergrund, desto grösser sind die zu erwartenden Schäden.»
Bezüglich der Baunormen habe sich, so SED-Direktor Wiemer, in der Schweiz in den letzten 20 Jahren viel getan. Auch, weil es in dieser Zeit ein Umdenken gab.
Eine vom Bundesamt für Umwelt angeregte Studie ergab 1995, dass das Erdbebenrisiko in der Schweiz unterschätzt werde: faktisch handle es sich um die potentiell verheerendste Naturgefahr. In der Folge forderten zahlreiche Fachleute, Versicherer und Politiker eine verbesserte Erdbebensicherung von Bauwerken und Anlagen.
Eidgenössische Solidarität
Nichtsdestotrotz: «Ein in der Vergangenheit aufgetretenes Erdbeben hätte heute viel gravierendere Folgen, wenn es sich in der gleichen Stärke wiederholen würde», schreiben die Autoren des Berichts «Umgang mit Naturgefahren», der am 24. August, just am Tag des Erdbebens in Italien, vom Bundesrat genehmigt wurde. Dies habe, so die Experten des Bundesamtes für Umwelt, auch mit der höheren Bevölkerungsdichte und der Komplexität moderner Infrastrukturen zu tun.
Rückversicherer schätzen, dass eine Wiederholung des Erdbebens von Basel im Jahr 1356 direkte Sachschäden zwischen 50 und 100 Milliarden Franken zur Folge hätte. Der Worst Case könnte auch die Steuerzahler hart treffen: «Die heutige Deckung ist ungenügend», so die Bafu-Experten, und schliessen: «In einem grossen Ereignisfall müsste die öffentliche Hand über allfällige ausserordentliche Sonderhilfen entscheiden.»