Das gesamte Verfahren in der Türkei sei rechtswidrig, sagt Selahattin Demirtas. Über den Ausgang des Prozesses macht sich der kurdische Oppositionsführer keine Illusionen: Er wird den eleganten, anthrazitfarbigen Anzug schon bald gegen andere Kleider tauschen müssen: «Sie spekulieren bereits, wer in welches Gefängnis kommt und wer mit wem die Zelle teilen soll. Insofern ist alles vorbereitet.»
Das Ziel dieses «kalten Putsches» sei klar, betont Demirtas weiter: Erdogan sehe sie nicht als politische Gegner, sondern als Feinde, die er kaltstellen wolle. Europa aber schliesse die Augen und kritisiere Erdogan kaum. Vor allem Deutschland bleibt nach den Worten von Demirtas stumm – mit Rücksicht auf den Flüchtlingsvertrag, den die EU unter deutscher Führung mit der Türkei geschlossen hat.
Demirtas vermisst ausländische Kritik
Aber auch aus der Schweiz wünscht sich Demirtas mehr Kritik: In letzter Zeit seien Hunderte von Zivilisten inhaftiert, verschleppt und getötet worden. Die türkische Armee habe kurdische Städte zerstört, aber leider habe man von der Schweiz dazu nichts gehört.
Die heutige Resolution des Deutschen Bundestags zum Völkermord an den Armeniern vor über 100 Jahren war für den Kurdenpolitiker überfällig – auch mit Blick auf die aktuellen Ereignisse im kurdischen Teil der Türkei: «Wenn es bei den Kurden ähnlich wird wie im Fall des Genozids an den Armeniern, wird allenfalls in 100 Jahren darüber abgestimmt», bemerkt Demirtas.
Was ist von der Aufbruchstimmung geblieben, die nach den Wahlen in der Türkei vor einem Jahr noch herrschte? Die Antwort gibt Demirtas mit einem Bild: «Beim Schwimmen muss man manchmal untertauchen und mit den Beinen vom Grund abstossen, um besser an die Oberfläche zu kommen.» Immerhin habe man bis jetzt Erdogans Pläne zum Aufbau eines Präsidialsystems blockiert.
Den Optimismus will sich Demirtas nicht nehmen lassen, denn das wäre Erdogans grösster Sieg.