Lange Zeit ist nichts geschehen. Jetzt wird dieses düstere Kapitel Schweizer Sozialgeschichte aufgearbeitet. In kleinen Schritten. Es gab eine Entschuldigung des Bundesrats. Es gibt einen runden Tisch. Und es gibt seit April in allen Kantonen Anlaufstellen für Opfer sogenannter fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.
Allerdings kämpfen diese Angebote mit den Tücken des Kantönligeists. Die Anlaufstellen wurden ungewöhnlich schnell geschaffen. Statt erst Konzepte zu entwickeln und Reglemente zu schreiben, empfahl die SODK – die Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren – die bestehenden Opferhilfestellen zu nutzen.
100 Anfragen in zwei Monaten
Besonders aktiv ging der Kanton Zürich vor. Die Opferberatung wurde aufgestockt. Geschäftsleiterin Elsbeth Aeschlimann erklärt: «Wir begleiten Betroffene zu den verschiedenen Archiven, sind dabei, wenn sie Akteneinsicht nehmen und haben dann die Möglichkeit, auch wieder eine Nachbesprechung anzubieten.»
Dabei gehe es auch darum, die Akte so aufzubereiten, dass sie bereit ist, sollte die Politik dereinst finanzielle Ansprüche entschädigen. 23 Mal wurde das Angebot in den ersten beiden Monaten in Zürich bisher genutzt, schweizweit nur knapp 100 Mal.
Den Zürcher Staatsarchivar Beat Gnädinger überrascht das nicht: «Da sind wir wirklich gefordert. Wir müssen verstehen, dass jemand, der 30 Jahre lang schwierige Erfahrungen mit den Behörden gemacht hat, im Moment halt einfach keinen Bock hat, von sich aus zu den Behörden zu gehen und denen zu vertrauen.»
Negative Rückmeldungen
Ursula Biondis «Vergehen» war, mit 17 Jahren schwanger zu werden. 1967 war das. Für diesen angeblich liederlichen Lebenswandel bestraften sie die Behörden, indem sie sie ins Frauengefängnis Hindelbank steckten. Heute ist Biondi die Sprecherin von vielen Frauen und Männern, die noch bis 1981 ohne Gerichtsurteil oder psychiatrisches Gutachten weggesperrt wurden, sprich administrativ versorgt.
Bei ihr haben sich Betroffene über schlechte Erfahrungen mit kantonalen Anlaufstellen beklagt. Biondi fordert deshalb: «Lieber weniger Anlaufstellen, als zu viele, die dann nicht richtig funktionieren. Man darf nicht vergessen, all diese Menschen, die zum ersten Mal mit ihren Akten konfrontiert werden, müssen unbedingt jemanden vis-à-vis haben, der genügend Sensibilität zeigt und die Menschen auch begleitet.»
Der Blick auf die Liste der kantonalen Anlaufstellen zeigt: Längst nicht alle sind der Empfehlung der Sozialdirektorenkonferenz gefolgt. Und längst nicht alle haben wie in Zürich finanzielle Mittel bereitgestellt. In Appenzell Innerrhoden, Baselstadt, Uri, Genf, Waadt und Wallis müssen sich Betroffene selbst in die Archive bemühen. Andere Kantone haben die Beratung ausgelagert oder den Ombudsmann damit beauftragt.
Besserung in Sicht
Das Problem ist nun erkannt. In einigen Wochen ist eine Zusammenkunft aller kantonalen Anlaufstellen geplant, wo minimale Standards definiert werden. Elsbeth Aeschlimann: «Es sollte längerfristig so sein, dass Betroffene, egal bei welcher Anlaufstelle in welchem Kanton sie sich melden, ähnliche Leistungen erhalten.»
Das hofft auch Ursula Biondi. Denn was Opfer von Zwangsmassnahmen in den Archiven schwarz auf weiss zu Gesicht bekommen, reisst oft alte Wunden auf. Erhalten sie auf dem Weg durch die Instanzen nicht die richtige Hilfe, so ist das besonders tragisch – auch, weil sie einmal mehr an den Ämtern scheitern.