Es ist laut und schwül in dieser Nacht im Slum Maratha Colony Golibar. Der Slum befindet sich im Stadtteil Santacruz von Mumbai. Draussen auf den Strassen dröhnt der Welthit «Gangnam Style».
Drinnen, im ersten Stock eines klitzekleinen Häuschens, feiert die 25jährige Mithila ihren Polterabend. Die zukünftige Braut und ihre ausschliesslich weiblichen Besucher streichen sich mit einer gelben Paste ein – das Ritual soll Glück bringen und artet unter viel Gekreische in kleinere Schlammschlachten aus. Es ist der Vorabend von Mithilas Hochzeit und auch ich sehe inzwischen aus, als hätte man mich aus einem Currytopf gezogen.
Morgen wird Mithila ihr Elternhaus für immer verlassen und den 32jährigen Prakash heiraten. Die beiden kennen sich nur flüchtig. Sie haben sich nur wenige Male und immer nur in Begleitung treffen können. Natürlich stammen sie aus derselben Kaste der Hindu-Maratha.
Etwas anders ist in der indischen Gesellschaft auch heute noch fast undenkbar. Noch immer sind in Indien 90 Prozent der Ehen arrangiert. Dies auch deshalb, weil Liebe in Indien vor allem dazu dient, die Erwartungen der Familie zu erfüllen.
Arrangierte Eheschliessungen
Mithila wird sich um die Schwiegereltern kümmern. Die eigenen Eltern dürfen von ihr keine Unterstützung mehr erwarten. Hilfe erhalten sie dafür von ihrer Schwiegertochter. Es sind die Söhne, die die Altersvorsorge sicherstellen. Vor der Hochzeit haben die Eltern von Braut und Bräutigam sichergestellt, dass Kaste, soziale Stellung und die Horoskope der Brautleute übereinstimmen. Nur in liberalen Familien haben die Brautleute ein Wörtchen mitzureden oder können einen Bewerber, eine Bewerberin ablehnen.
Heimliches Konkubinat
Für das moderne Leben in der Stadt steht das Beispiel von Charanjit und Shweta – sie haben sich ohne Hilfe der Familien gefunden. Am Arbeitsplatz, in einem Callcenter in Mumbai, begegneten sie sich auf der Karriereleiter nach oben. Seit fünf Jahren sind die beiden nun ein Paar, seit zwei Jahren leben sie ohne Trauschein zusammen.
Ihre Familien sind im Bundesstaat Panjab zu Hause, fast 2000 Kilometer von Mumbai entfernt. Sie dürfen nicht wissen, dass ihre 28jährigen Kinder Wohnung und Bett teilen. Selbst in liberalen Kreisen ist das Zusammenleben ohne Trauschein noch ein Tabu.
Familien muss sich tolerant zeigen
Charanjit und Shweta gehörten zu Indiens wachsender Mittelschicht. Sie verdienten gemeinsam rund 1700 Franken im Monat, sind finanziell unabhängig und wollen ihre Zukunft selbst bestimmen.
Beide Familien wissen um die Heiratspläne von Charanjit und Shweta. Sie haben ihren Segen gegeben, obschon sie aus der Kaste der Hindu-Mahajan, und er aus der Kaste der Punjabi-Jatt stammt.
Auch in Sachen Religion müssen die Eltern eine Kröte schlucken: Charanjit, der junge Mann aus einer Sikh-Familie, bezeichnet sich als Atheist. Shwetas Familie gehört der Hindu-Religion an – die Braut selbst bezeichnet sich als religiös. Mit etwas Toleranz und viel Respekt füreinander, sind die beiden überzeugt, werden sie aber auch diese Hürde nehmen.