Der Berner Politologe Adrian Vatter untersucht an der Universität Bern unter anderem das Wahl- und Stimmverhalten der Schweizer Bevölkerung. SRF News wollte von ihm wissen, was man insbesondere über die Gruppe der Nichtwählerinnen und Nichtwähler in der Schweiz weiss.
SRF News: Wenn Sie die Wahl- und Stimmbeteiligung in der Schweiz anschauen: Welches Bild zeigt sich?
Adrian Vatter: In der Schweiz gehen nicht so viele Menschen wählen, wie in repräsentativen Demokratien, wie zum Beispiel Deutschland. Aber dort finden auch nur alle vier Jahre Wahlen statt, während die Schweizer jedes Vierteljahr an die Urne gerufen werden. Schaut man nun den Zeitraum von vier Jahren an, dann gehen auch hier etwa 75 bis 80 Prozent der Stimmbürger mindestens einmal an die Urne. Das ist eigentlich ein ganz guter Wert, der – so gerechnet – mindestens so hoch ist, wie in anderen Ländern.
Kann man aus politikwissenschaftlicher Sicht also daraus schliessen, dass es gar kein grosses Problem ist, wenn die Mehrheit nicht wählen geht – weil man die Urnengänge gesamthaft betrachten sollte?
Das ist richtig. Wenn bei einer einzelnen Abstimmung – beispielsweise beim Tierseuchengesetz – nur 30 Prozent der Leute an die Urne gehen, dann wird sehr schnell der Ruf nach einer Stimmpflicht laut. Ich halte das nicht für die richtige Lösung, denn die Leute sollten eine gewisse Kompetenz, eine gewisse Informiertheit haben. In der Schweiz haben wir diesen Selbstselektionsmechanismus. Jene Leute, die besser informiert sind, gehen viel häufiger an die Urne; und jene, die sich nicht mit der Materie auseinandersetzen, bleiben viel häufiger zuhause.
Mehr als die Hälfte der Nichtwähler ist mit der aktuellen Politik durchaus zufrieden.
Aber wir sprechen hier auch von den Parlamentswahlen, bei denen der Gesetzgeber bestimmt wird. Ist das nicht eine Spezialkategorie von Urnengängen, bei denen es problematisch ist, wenn weniger als 50 Prozent an die Urne gehen?
Es ist schon so, dass die Schweiz fast alleine dasteht mit der tiefen Beteiligung bei Wahlen. Nur noch die USA verzeichnen einen ähnlich tiefen Wert. Das hängt aber in der Schweiz damit zusammen, dass wir in einer direkten Demokratie einen Parlamentsentscheid jeweils auch korrigieren können.
Für uns ist es also gar nicht so wichtig, wie das Parlament zusammengesetzt ist. Denn wir haben über die Instrumente der direkten Demokratie – insbesondere über das fakultative Referendum die Möglichkeit, eine Korrektur vorzunehmen. Ein zweiter Grund ist der ausgeprägte Föderalismus. Für uns sind nicht nur die nationalen Entscheide wichtig, sondern auch jene auf kantonaler und kommunaler Ebene. Auch dort ist die Wahlbeteiligung nicht besonders hoch. Aber die Leute haben doch die Möglichkeit auf verschiedenen Stufen politisch mitzuwirken – und von den Volksrechten Gebrauch zu machen.
Sie haben zusammen mit anderen Forschenden die Nichtwähler typologisiert. Zu welchem Fazit sind Sie gekommen?
Es gibt eine aktuelle Studie von Markus Freitag und Matthias Fatke die zeigt, dass die Nichtwählerschaft nicht eine homogene Gruppe ist. Sie weist zwar gewisse Gemeinsamkeiten auf. Oft ist es zum Beispiel geringes politisches Wissen. Und es sind oft auch eher bildungsferne Gruppen, die nicht an die Urne gehen. Es gibt aber innerhalb der Gruppe der Nichtwähler ganz unterschiedliche Typen. Beispielsweise gibt es solche, die zwar nicht an Wahlen teilnehmen, dafür aber abstimmen gehen. Dann gibt es jene, die eher alternativ partizipieren, also zum Beispiel an Protestaktionen gehen. Und dann gibt es auch noch jene, die sich einfach generell nicht für Politik interessieren.
Kann man aus diesen Studien schliessen, wie gross der Anteil jener ist, die unzufrieden sind mit der aktuellen Politik?
Es gibt tatsächlich eine kleine Gruppe, die mit dem System nicht zufrieden ist. Und dann gibt es noch eine Gruppe, die sich an der aktuellen Regierungs- und Parlamentsarbeit stört. Mehr als die Hälfte der Nichtwähler ist aber mit der Politik durchaus zufrieden.
Das Gepräch führte Dominik Meier
«E-Voting mobilisiert keine neuen Wähler»
Immer wieder keimt die Hoffnung auf, dass die Einführung von elektronischen Urnen – also Wahl und Abstimmung über das Internet – die Beteiligung steigern wird. Uwe Serdült vom Centre for Research on Direct Democracy an der Universität Zürich dämpft diese Erwartungen aber. Zwar gebe es noch wenig Daten zum «E-Voting», weil dieses bisher nur bei Auslandschweizern und bei Versuchen in wenigen Kantonen eingesetzt wurde. Doch habe sich dort gezeigt, «dass die Wahl des Kanals keine Auswirkungen auf die Teilnahmeraten hatte», sagt Serdült. Mit der elektronischen Wahl und Abstimmung hätten also keine neuen Wählerschichten mobilisiert werden können. Es seien höchstens Verschiebungen festzustellen gewesen: Leute, die bisher schon brieflich abgestimmt hätten oder an die Urne gegangen seien, hätten einfach teilweise das neue Angebot genutzt. |