Menschen versuchen dieser Tage verzweifelt, Grenzen zu überwinden, Kinder sterben auf dem Weg mit ihren Eltern in ein vermeintlich besseres Leben – wenn das Leid anderer an uns heranrückt, sind wir bereit, zu helfen, Geld zu geben, uns gar selbst einzuschränken. Kurz: altruistisch zu handeln.
Falsch, finden effektive Altruisten. Man solle sich beim Spenden neben dem Herzen vor allem auch vom Verstand leiten lassen. «Jeden Tag sterben 20‘000 Kinder an den Folgen von Armut, und das ist nur ein Problem, und dieses Problem ist jeden Tag da», sagt Adriano Mannino, Präsident der Stiftung für Effektiven Altruismus, im Interview mit «ECO». «Das Leid wird nicht weniger schlimm, nur weil es in der Distanz passiert.» Wenn man sich das vergegenwärtige, scheine es ein normaler menschlicher Impuls zu sein, zu sagen: Ich möchte möglichst viel bewirken.
Angefangen hat alles in Grossbritannien. Dort werden inzwischen junge Menschen zu Investment Bankern, um 70 Prozent des Lohns wieder abzugeben und weiterhin wie Studenten zu leben. Mit einem möglichst lukrativen Job könne man die grösstmögliche Summe spenden.
Ganz so radikal lebt die Schweizer Community der Effektiven Altruisten nicht. Doch auch hier hat sich seit 2013 eine Gruppe entwickelt, die nach eigenen Angaben nach Oxford und San Francisco die drittgrösste ist. Beim Schweizer Ableger will man den effektiven Altruismus vor allem «lebbar» machen. Das heisst: Man solle realistisch beurteilen, ob der Job, den man ausübe, und die Summe, die man abgebe, auf lange Sicht haltbar seien. Mitglieder spenden in der Regel 10 bis 50 Prozent des Geldes, das sie verdienen.
Gier durch Altruismus ersetzen
Das Ziel der Bewegung ist hoch: ein Umdenken in der Gesellschaft, eine bessere Welt. Gleichzeitig sind ihre Mitglieder alles andere als Kapitalismus-Kritiker, wie der Leiter des Ethik-Zentrums der Universität Zürich sagt: «Die Effective-Altruism-Bewegung will dem Kapitalisten die Gier nehmen und sie durch Altruismus ersetzen», erklärt Francis Cheneval. «Man soll also zwar zuerst schon reich werden, aber nur, um dann alles wieder zu spenden oder einen grossen Teil, steht aber mit beiden Füssen eigentlich auf kapitalistischem Boden. Es gilt, das Wertschöpfungspotenzial des Kapitalismus auszunützen, maximal auszunützen, um Armut zu beseitigen.»
Die Idee beurteilt er als gut. Allerdings sieht er aus ethischer Sicht gewisse Gefahren. «Es wird alles auf den kollektiven Gesamtnutzen hochgesteigert. Die Ethik wird also quasi zu einem Hochleistungssport, der über das Geld abgerechnet wird.» Er empfiehlt denn der Bewegung, «nicht allzu missionarisch» aufzutreten mit einer gesamtheitlichen ethischen Theorie (s. Box unten).
Welche Massnahme rettet die meisten Leben?
Mit dem maximalen Melken des Kapitalismus soll gleichzeitig eine maximale Wirkung erzielt werden. Das zweite Kennzeichen der Bewegung ist die Leitfrage: Wo kann das gespendete Geld am meisten bewirken, am meisten Leben retten? Dabei stützen sich effektive Altruisten auf Studien der Entwicklungsökonomie. In den USA und in Grossbritannien sind Organisationen entstanden, die die Effizienz von Hilfswerken versuchen zu messen.
Das ist nicht unumstritten. Renommierte Entwicklungs- und Verhaltensökonomen wie Daren Acemoglu vom Massachusetts Institute of Technology MIT oder Ernst Fehr von der Universität Zürich weisen darauf hin, dass nur eine Massnahme Menschen dauerhaft aus der Armut befreien und ihre Gesundheit und Bildung fördern könne: wirtschaftliche Entwicklung.
Adriano Mannino sieht keinen Widerspruch zu den Aktivitäten des effektiven Altruismus: «Das ist völlig kompatibel mit dem Spendenansatz. Wenn man denkt, dass politische Organisationen am effektivsten sind, dann soll man natürlich dorthin spenden.»
Forscher beginnen erst, sich mit den neuen Weltverbesserern auseinanderzusetzen. Sie setzen aus soziologischer, psychologischer und philosophischer Sicht diverse Fragezeichen. Gleichzeitig sind sich die angefragten Wissenschaftler einig in ihrer positiven Bewertung der Grundmotivation: Effektive Altruisten sind Menschen, denen es fremd ist, Wohlstand anzuhäufen und für hohe Löhne neue Bedürfnisse zu schaffen; Menschen, die der Ansicht sind, andere könnten aus ihrem Geld viel mehr Glück herausholen – noch sind sie rar in unserer Gesellschaft.