10 Sekunden. So kurz dauerte es, bis die ersten Reihen im Studio 1 gefüllt waren. Die Hosen-Fans stürmten in den Saal und machten sich die besten Plätze streitig. Eine gewisse Routine aus Konzerten war nicht zu übersehen. «Der Krach der Republik» stand da auf den T-Shirts, die Arme nackt, man wähnte sich an einem Open Air. So recht wollten sie nicht ins steife Radiostudio passen.
Genauso ungewohnt war das Studio für die Hauptfigur des Abends: Campino. Statt von der Bühne aus seine Fans anzuschreien und in Ekstase zu versetzen, sollte es mit SRF 3 Moderator Tom Gisler ein Abend der ruhigen Töne werden.
Auf dem Programm stand auch eine Lesung aus der neuen Bandbiographie «Am Anfang war der Lärm». Neuland für Campino, der gleich zu Beginn des Gesprächs warnte:
Wenns mit der Lesung nicht funktioniert, gehen wir einfach zusammen in die Kneipe!
Es funktionierte. Während Campino las und von seiner Kindheit und dem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater erzählte, war es totenstill im Saal. Dieser sei oft überfordert gewesen, mit Kindern, die lauter schlechte Schulnoten nach Hause brachten. Das habe er erst so richtig verstanden, als er dann selber Vater wurde. «Zuerst können Kinder nicht laufen und du denkst: Was ist los? Dann können sie laufen und du denkst: Wo gehen sie hin?» Jetzt erst habe er selbst das Gefühl von Angst und Überforderung kennen gelernt.
Wer am Dienstagabend im Studio 1 sass, erlebte einen Campino, der ganz in seiner Mitte war. Entspannt, mit sich selbst im Reinen. Mit seinen Anekdoten aus 32 Jahren Bandgeschichte war er ein hervorragender Unterhalter und sorgte immer wieder für Lacher im Publikum.
Ein Highlight: Tom Gisler sprach ihn auf den rauen Umgangston in der Band an, so war es in der Biografie beschrieben. Campino grinste und platzierte augenzwinkernd den Spruch:
Zuneigung zeigen geht nur mit Ecstasy
Es sei schon schwierig, einen Bandkollegen nach 30 Jahren einfach so mal zu umarmen. Bei den Toten Hosen sei das eher so: «Morgens heisst's 'Na du Arsch', aber das ist fast das Gleiche wie bei euch 'Grüezi'». Die Zuschauer lachen.
Dann tauchte der Frontmann tief in die Drogenvergangenheit der Band ein und erzählte nochmals, wie es zum ultrakurzen Auftritt in Zürich 1990 kam – nach tagelangen Exzessen (Audio).
Der Focus live mit Campino machte eines klar: Bei den Toten Hosen steckt genauso viel Punk drin wie drauf steht. Das belegt auch folgende Aussage vom Bandleader:
Bandbiografien sind meist eine Aneinanderreihung von alten ‹Sex, Drugs und Rock’n‘Roll›-Klischees. Unsere Biografie ist anders: Wir hatten noch viel mehr Sex mit Groupies, nahmen noch mehr Drogen und spielten noch lauter.
Doch wo viel Drogen, Sex und kaputte Hotelzimmer waren, sind heute gereifte Erfahrungen, mitunter auch traurige. Campino erzählt, wie der Tod eines Fans bei einem Konzert die Band vorübergehend in eine Krise gestürzt hätte. «Unser Motto: 'Betreten auf eigene Gefahr' war weggespült.» Momente wie diese hätten die Band geprägt.
«Früher haben wir bei vielen Shows gedacht: Hoffentlich stehen wir das durch. Heute geniessen wir jedes Konzert.»
Nächster Genuss-Termin für Die Toten Hosen und ihre Schweizer Fans ist der 15. August 2015 im Zürcher Letzigrund. Campino wird dann weniger leise sprechen, weniger aus seiner Vergangenheit erzählen, und trotzdem bei jeder Songzeile seine Fans mitreissen.
Campino hat seine erste Lesung überstanden und sagt: «Es hat Spass gemacht.» Uns auch!