Meine irische Nahkämpferin Billie Jean steht völlig neben ihren Kampfstiefeln. Normalerweise erledigt sie Aliens mit Schrotflinte und Schwert, ohne ausser Atem zu geraten. Doch diesen hat es ihr heute geraubt. Unkonzentriert trifft sie nichts, nicht einmal den Soldaten, der ihr direkt vor die Nase stolpert.
Schuld daran ist Vujo. Der schöne Scharfschütze mit den wallenden Locken schiesst nicht nur ausserordentlich treffsicher auf die ausserirdischen Gegner – offenbar hat er auch genau ins Herz von Billie Jean getroffen. Verträumt bewundert sie Vujos goldbraun glänzenden Bizeps. Hach!
«Sims» mit Soldaten
Vordergründig ist «XCOM 2» ein Strategiespiel – wir bauen eine Guerillatruppe auf, um den Aliens die Erde wieder wegzunehmen. Doch eigentlich ist «XCOM 2» eher wie «Sims» mit Soldaten (schreibt Alec Meer bei «Rock Paper Shotgun»). Oder ein «character creation game with a small strategy component» (witzelt James Davenport für «PC Gamer»).
Auch wenn das nur halb ernst gemeint ist: Genau deswegen ist «XCOM 2» so grossartig. Ja, es ist ein wunderbares Strategiespiel (dazu gleich mehr). Doch das, was es so speziell macht, was es mir so ans Herz wachsen liess, sind die Figuren, die wir erstellen.
Das funktioniert so: Wir können die Soldaten, die in den einzelnen Missionen in den Krieg ziehen, selber erstellen. Ihnen Namen geben, eine kleine Hintergrundgeschichte erfinden, ihr Aussehen bestimmen, ihnen eine persönliche Einstellung verleihen (beispielsweise «Happy-Go-Lucky» oder «Intense»). So habe ich mir Vujo und Billie Jean gebastelt; dazu Doris «Scheff» Leuthard, Johann «Schneider» Ammann, Peach «Gäx» Weber oder Melanie «WC» Winiger. Übrigens alle aus «Schweden», weil es die Schweiz in «XCOM 2» nicht gibt. Wir sind dem Spiel wohl zu neutral.
Eigene Figuren statt Kanonenfutter
Diese Figuren speichern wir in einem «Character Pool». Den füllt das Spiel auch zufällig auf, damit immer genug Figuren verfügbar sind. Das Spiel bedient sich dann aus diesem Pool, wenn wir neue Soldaten rekrutieren oder in einer Mission jemanden retten müssen.
Haben wir einmal Peach oder Doris rekrutiert, werden sie mit jedem Kampf erfahrener und stärker. Lasse ich zu, dass sie verletzt werden, kann ich sie eine Weile lang nicht mehr einsetzen. Lasse ich sie auf dem Schlachtfeld zurück, werden sie gefangen genommen (Melanie Winiger beispielsweise habe ich so verloren; später im Spiel werde ich sie vielleicht befreien können). Und wenn die Soldaten sterben, dann bleiben sie tatsächlich tot. In unserer Basis erinnert eine Wand mit Porträts an die Gefallenen.
Die Folge dieser Personalisierung und Permanenz ist, dass uns die Figuren ans Herz wachsen. Im Gegensatz zu praktisch jedem anderen Strategiespiel, wo einzelne Soldaten meist nur namenloses Kanonenfutter sind. Es entstehen kleine Geschichten, sogenannte «emergent stories» – teilweise zufällig, abhängig vom Verlauf einer Schlacht. Aber vor allem von uns selber erfunden, so wie die oben angedeutete Liebesgeschichte von Vujo und Billie Jean (danke für die Idee an «asaaya» im Youtube-Live-Stream).
Enorme taktische Tiefe
Neben diesen Geschichten ist «XCOM 2» ausserdem noch ein äusserst kompetentes Strategiespiel. Die Grundlagen sind solide. Es ist wichtig, Gegner zu flankieren und unsere eigenen Soldaten immer in Deckung zu halten. Wir müssen sie in möglichst optimaler Reihenfolge einsetzen, beispielsweise zuerst mit dem Grenadier eine Deckung zerstören und erst dann mit dem Scharfschützen schiessen, um dessen Trefferchance zu erhöhen.
Und je mehr Fähigkeiten einzelne Soldaten haben, desto wichtiger wird auch die Zusammensetzung des Teams. So können wir einen Scharfschützen auf die lange Distanz spezialisieren. Oder stattdessen seine Fähigkeiten im Umgang mit einer Pistole verbessern, um ihn gegen Flankenangriffe abzusichern. Je nach Ziel der Mission ist dann der eine besser geeignet als der andere. Hier ermöglicht das Spiel enorme taktische Tiefe und Varianz.
Wer zögert, verliert
Mir gefällt besonders die ideale Mischung aus Zeit zum Nachdenken und Druck. Das Spiel ist rundenbasiert: Ich ziehe mit meinen Soldaten, dann sind die vom Computer gesteuerten Aliens dran. Ich kann also so lange überlegen, wie ich will.
Dennoch zwingt mich das Spiel immer, vorwärts zu machen. Das ist der wichtigste Unterschied zum Vorgänger «XCOM: Enemy Unknown»: eine extrem vorsichtige, langsame Taktik wird erschwert oder verunmöglicht.
Soldaten haben pro Zug jeweils zwei Aktionen zur Verfügung. Einmal laufen, dann etwas tun; oder zweimal laufen. Eine dieser Aktionen ist «Overwatch»: Statt zu schiessen, passt der Soldat auf. Läuft ihm im gegnerischen Zug dann ein Alien ins Sichtfeld, schiesst er automatisch, obwohl wir gar nicht am Zug sind. Wer sich also vorsichtig auf unbekanntes Terrain wagt, bewegt seine Soldaten nur langsam und setzt sie immer auf Overwatch.
Im Vorläufer war deshalb «Walk & Overwatch» die übliche Taktik. Das kann allerdings das Spiel monoton und zähflüssig machen.
«XCOM 2» verbessert klar und zwingt uns häufiger eine riskantere Taktik auf. So gibt es in vielen Missionen Zeitdruck: Etwas explodiert nach einer bestimmten Anzahl Züge; die Gegner zerstören langsam eine Struktur, was wir verhindern sollen; alle paar Züge lässt der Gegner Nachschub einfliegen. Wir werden also dazu gezwungen, immer wieder den Rhythmus zu wechseln und auch einmal riskantere, schnellere Vorstösse zu wagen.
Dieser Zeitdruck hält auch zwischen den Missionen an. Wir bauen unsere Basis aus, wählen Missionen aus, erforschen die ausserirdische Technologie. Doch lässt uns «XCOM 2» auch hier nicht einfach in Ruhe herumbasteln, sondern hält uns laufend mit Not- und Zwischenfällen auf Trab.
Das gefällt mir gut, denn es verhindert, dass wir allzu obsessiv vorausplanen. So ist Krieg, Soldat – kein Plan überlebt den Kontakt mit dem Feind (hat mal ein preussischer Generalfeldmarschall viel komplizierter formuliert, Original-Zitat für Militärhistoriker hier).
Nicht stabil, fehlerhafte Kamera
Mäkeln kann ich nur im Kleinen. Das Spiel ist übertrieben leistungshungrig und läuft bei vielen nur mit reduzierten Einstellungen stabil (Anti-Aliasing, Ambient Occlusion und Qualität der Schatten deutlich reduzieren hat bei mir gut geholfen, mehr Tipps hier).
Ausserdem schaut die Kamera immer wieder mal daneben und zeigt mir die Bewegung eines Gegners nicht. Weil «XCOM 2» aber sogenannte Mods unterstützt, gibt es schon jetzt von Fans erstellte Modifikationen des Spiels, die beispielsweise das Verhalten der Kamera verbessern oder überlange Wartezeiten verkürzen.
Eins ist jetzt schon klar: «XCOM 2» ist ein Strategiespiel-Klassiker, den die Fans des Genres noch Jahre spielen werden.
«XCOM 2» ist für Windows, Mac und Linux. Es ist ab 16. Das Haikiew ist hier.