Astroturfing hört sich nach Weltall an. Hört sich so an, als ob sich das nicht in deiner Welt abspielt. Oder? Falsch! Astroturfing betrifft uns alle. Das Schweizer Paradebeispiel dafür lieferten 2012 die Gegner der Abzockerinitiative:
Kurz vor dem Abstimmungstermin deckte der «Tages Anzeiger» auf, dass Studenten von einer Werbeagentur angeheuert wurden, um in den Kommentarspalten von Online-Medien und -Foren gegen die Abzockerinitiative Stimmung zu machen. Als Auftraggeber wurde der Wirtschaftsverband Economiesuisse vermutet, welcher bei derselben Werbeagentur Plakate gegen die Initiative gestalten liess und insgesamt acht Millionen Franken in den Abstimmungskampf investierte.
Bezahltes Interesse
Astroturfing ist Manipulation auf hohem Niveau: Unternehmen oder Lobbyorganisationen bezahlen Leute, die ihre Interessen «unabhängig» öffentlich vertreten und verbreiten. Um die Glaubwürdigkeit des Fake-Grassrootmovements nicht zu gefährden, dürfen die Namen der Geldgeber nirgends auftauchen.
Doch Astroturfing wird nicht nur in der Politik praktiziert, sondern passiert mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf deinem News-Feed. Beispielsweise heucheln Promis im Auftrag von grossen Unternehmen wahres, persönliches Interesse für bestimmte Themen. Im Grunde sind auch Influencer nicht weit von Astroturfing entfernt. Der einzige Unterschied ist, dass Influencer auf die Herkunft der beworbenen Produkte hinweisen.
Moral versus Profit
Fliegen die Drahtzieher hinter dem Astroturfing-Versuch auf, hat das fatale Folgen. Der gute Ruf ist hin, die hart erarbeitete Glaubwürdigkeit plötzlich verpufft und je nachdem droht vernichtende Fanpost oder gar der finanzielle Ruin. Dass solche Manipulationsversuche moralisch fraglich sind, ist unbestritten. Illegal ist diese Art der Einflussnahme allerdings nicht.
Moralisch fraglich, juristisch in der Grauzone: Trotzdem ist Astroturfing eine attraktive Praktik, denn nicht nur Einflussmacht und Reichweite, auch eine erhebliche Profitsteigerung winken. Sofern nichts auffliegt.
Das Gras ohne Wurzeln
Was harmlos als Markenname für Kunstrasen begonnen hat, ist heute ein Begriff für Manipulation, Täuschung und Demokratiefeindlichkeit. AstroTurf ist ein bekanntes US-amerikanisches Brand für Kunstrasen, wie er auf dem Fussballplatz zu finden ist. Aus diesem Namen ging der Begriff Astroturfing hervor. Wie dem Kunstrasen fehlen also auch dem vermeintlichen Grassrootmovement die echten (Gras-)Wurzeln – genau darauf spielt der Begriff Astroturfing an.
Stunde null
Der erste grössere Fall von Astroturfing im Netz wurde 2002 in den USA aufgedeckt. Streitpunkt war genmanipulierter Mais aus Mexiko: Zwei illustre User attackierten auf diversen Internetforen einen Wissenschaftler massiv, dessen Studie belegte, dass mexikanischer Mais zu einem grossen Teil von genmanipulierte Pollen befallen war.
Investigative Recherchen zeigten, dass die Kommentare von der Domain einer auf Internetlobbying spezialisierten PR-Agentur stammten. Ironischerweise kam das Geld für die Aktion vom Unternehmen Monsanto, das den Kunstrasen AstroTurf entwickelt und patentiert hat.
Virtuelle Astroturfer
Seit 2002 ist in Sache Internet viel passiert. Statt auf Internetforen werden gefakte Meinungen heute über Social-Media-Kanäle verbreitet – und statt Menschen stecken dahinter Armeen von virtuellen Astroturfern. Erschaffen werden diese virtuellen Astroturfer von sogenannten Persona-Management-Softwares, welche authentisch aussehende Profile automatisiert, online erstellen. Die Fake-Profile sind von echten immer schwieriger zu unterscheiden und sind im Vergleich zu realen Astroturfern extrem kostengünstig.
Kämpfen für die Demokratie
Das Internet als ur-demokratisches und offenes Medium ist heute zum Verstärker von Manipulation und Gefährder der Demokratie geworden. Die Auswüchse des Internets lassen sich kaum noch kontrollieren. Umso wichtiger ist es also, dass wir im Netz bewusst konsumieren und uns kritisch mit den Inhalten sowie unseren Mit-Usern auseinandersetzen.
Das kann ziemlich anstrengend und zeitintensiv sein. Verhältnismässig ist das jedoch nur ein kleines Opfer für ein demokratisch(er)es Netz und eine ausgeglichene Gesellschaft. Und falls dein Kampfeswillen auf dem Weg dorthin verloren geht, denk dran: Gras ohne Wurzeln überlebt nicht lang.