Ein typischer Tag im Leben eines Prokrastinierers
Ich hab mich selten bei einem Wort so oft versprochen und vertippt wie bei «Prokrastination». Was heisst das konkret?
Oliver Kaftan: Pro kommt aus dem Lateinischen und heisst vorwärts, Crastinus bedeutet morgen. Das nach vorne verschieben auf Morgen wäre die wörtliche Übersetzung. Aber es kann natürlich nicht nur auf Morgen, sondern auf irgendwann verschoben werden.
Ein Prokrastinierer hat die Möglichkeit etwas jetzt zu machen und es wäre gut, es jetzt zu machen. Er macht es aber nicht, obwohl er negative Konsequenzen erwartet.
Ich habe das Gefühl, dass um mich herum alle prokrastinieren, auch ich. Beim Arbeiten immer wieder mal ein Abstecher auf Facebook oder Youtube, lieber eine Runde Baden gehen als lernen - aber am Schluss kriegt man es ja trotzdem auf die Reihe …
Oliver Kaftan: Natürlich prokrastinieren fast alle zu einem gewissen Grad und meistens nimmt es auch keine krankhaften Züge an. Sobald man aber stark darunter leidet und normale Herausforderungen nicht mehr bewältigt, wird es kritisch.
Viele sagen doch, dass sie unter Druck die besseren Leistungen bringen…
Oliver Kaftan: Das ist ein Trugschluss. Viele meinen, dass sie den Stress brauchen. Studien zeigen aber, dass sie schlechter abschneiden, also dass die Leute, die frühzeitig anfangen, besser sind.
Warum macht man das? Geht es um den Reiz, erst zwei Stunden vor der Prüfung zu lernen und es irgendwie zu bestehen, ist es Angst oder einfach Null-Bock-Stimmung?
Oliver Kaftan: Angst ist ein wichtiges Thema bei Prokrastination, Versagensängste oder Selbstzweifel.
Jemand der zu spät anfängt und dann sagen kann, ich hätte es geschafft, hätte ich rechtzeitig begonnen oder ich hätte es zumindest besser machen können, hat eine leichte Erklärung, warum es nicht geklappt hat.
Man muss sich als Person nicht selber in Frage stellen oder grundsätzlich was ändern.
Ist eine Versagensangst der Hauptgrund für Prokrastination?
Oliver Kaftan: Es gibt sehr viel verschiedene Gründe. Das eine wären Selbstzweifel oder Versagensangst. Dann verschiebt man gerne langweilige, schwierige oder schlicht uninteressante Aufgaben. Eine andere Komponente ist, wie Leute mit Ablenkung ganz allgemein umgehen können. Die einen können das ganz gut ausblenden, andere werden sehr stark von äusseren Reizen abgelenkt.
Es ist doch auch ein «First World Problem». Offenbar ist der Druck ja nicht so gross, wenn ich es mir leisten kann, herumzuplämpern…
Oliver Kaftan: Prokrastination ist an die Freiheit gebunden, dass ich etwas nicht jetzt machen muss. Aber man kann in einen Teufelskreis kommen, wenn man Herausforderungen wie einen Jobwechsel oder das Vorbereiten auf eine Prüfung nicht schafft. Dann von einem First World Problem zu reden, wäre nicht angemessen.
Aber es ist in unseren Breitengraden eher verbreitet als in Teilen der Welt, wo es um das tägliche Überleben geht.
Weiss man, wie viel Leute in der Bevölkerung prokrastinieren?
Oliver Kaftan: Dazu gibt es leider keine systematische Studie. Es kursieren Zahlen von 70 bis 90 Prozent der Menschen, die es machen. Man geht davon aus, dass es bei 10 Prozent ein Ausmass annimmt, bei dem man sich ernsthaft überlegen müsste, etwas dagegen zu tun.
Und was kann man dagegen tun?
Oliver Kaftan: Wenn man selber nicht mehr klar kommt, liegt es nahe, sich psychologische Hilfe zu holen.
Dann gibt es viele Strategien, die Leuten helfen können, die es in einem «normalen» Ausmass betreiben, wie wir es alle kennen. Ein gutes Zeitmanagement hilft.
Wenn es an Versagensängsten und Selbstzweifeln liegt, sollte man sich fragen, auf welchen Grundüberzeugungen die Ängste basieren, ob sie überhaupt zutreffen.
Oft haben Prokrastrinierer keinen genauen Plan. Sie stecken sich häufig auch unrealistische Ziele, die sie nicht erreichen können und daher bedrohlich wirken.
Wir haben auch von Ablenkungen gesprochen. Die kann man relativ gut kontrollieren, indem man Pushnachrichten abstellt oder nur fünfmal am Tag aufs Handy schaut und nicht immer, wenn mir jemand schreibt.