Die Geschichte nahm ihren Anfang, als ich im März SVP-Präsident Toni Brunner im Nationalrat toben sah: Die Stimmbürger würden die Durchsetzungsinitiative noch viel klarer annehmen als die Ausschaffungsinitiative. «Und dann haben Sie den Salat!», rief er den FDP- und CVP-Parlamentariern zu. Sie waren bei der Umsetzung der rechtlich heiklen Ausschaffungsinitiative umgeschwenkt und hatten für eine Härtefallklausel gestimmt.
Eine Grossbaustelle ist auch die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Der Wille des Volkes kollidiert immer öfter mit internationalem Recht und mit Verträgen mit anderen Staaten wie der Personenfreizügigkeit mit der EU.
Wie heilig darf der Volkswille sein?
Was also tun, wenn angenommene Initiativen so heikel sind, dass sie eigentlich nicht umgesetzt werden können? Ihre Zulassung einschränken? Oder das internationale Recht eindämmen, um dem Volkswillen Rechnung zu tragen? Die wählerstärkste Partei möchte letzteres. Sie sagt: «Selbstbestimmungsinitiative» und nimmt damit in Kauf, die europäische Menschenrechtskonvention zu kündigen, um die automatische Ausschaffung von kriminellen Ausländern umsetzen zu können. Nicht nur Völkerrechtler schlagen Alarm.
Ich frage mich: Was ist aus dem Schweizer Erfolgsmodell geworden? Wie heilig darf der Volkswille sein? Ich versuche, mich dem abstrakten Thema mit einer filmischen Erkundungsreise zu nähern. Sie führt mich zu Stimmbürgerinnen, Parlamentariern, einem kriminellen Ausländer und Experten. Sie beginnt im Schweizer Alltag und endet in Strassburg beim Europarat, einer internationalen Organisation, die die Menschenrechte verteidigt und in der auch SVP-Parlamentarier vertreten sind.
Die SVP. Als einzige Partei hat sie alle rechtlich und vertraglich heiklen, angenommenen Initiativen der letzten Jahre lanciert oder unterstützt – vom Minarettverbot, über die Verwahrungs-, Ausschaffungs- bis zur Masseneinwanderungsinitiative. Und da beginnen meine Probleme.
Ein Film über die SVP-Schweiz
Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen: Vor vier Jahren hatte ich einen Film über drei SVP-Mitglieder gemacht, die mir typisch schienen für die Wertehaltung der Partei. Die Reaktionen liessen nicht auf sich warten: Während der «Tagesanzeiger» mir vorhielt, die SVP überschätzt zu haben, waren SVP-Exponenten verärgert über die Darstellung der Porträtierten (Roger Köppel: «Die Kartoffelköpfe der SVP»). Die unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) aber bewertete den Film einstimmig als ausgewogen und sachgerecht.
Die Schweiz ist klein, das politische Gedächtnis gross und die SVP offenbar straff geführt: Einige junge SVP-Frauen, die ich für diesen Film anfragte, sagten erst zu – und nach Rücksprache mit der lokalen Parteileitung wieder ab. Ich bin froh, in der 31-jährigen Betriebsökonomin Martina Bircher eine unabhängig agierende Vertreterin der SVP-Linie gefunden zu haben.
Begegnungen mit SVP-Hardliner Alfred Heer
Ein Wechselbad der Gefühle waren die Begegnungen mit SVP-Nationalrat Alfred Heer. Wir haben beide drei Jahre in New York gelebt, ausserhalb der Drehs sprachen wir über Gott und die Welt, er bot mir das «Du» an. Kurz: Wir verstanden uns nicht schlecht. Kaum aber lief die Kamera, fiel Heer in die Rolle des Zürcher Hardliner-Präsidenten, der politische Gegner beleidigt und die Journalistin von SRF als «linke Kommunistin» verhöhnt.
Es geht mir in diesem Film nicht um die SVP. Es geht mir um den Schutz der Menschen- und der Grundrechte. Und die sind umfassend in der europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben und teilweise auch in der Schweizerischen Bundesverfassung.
«Ein Volk ist kein Gericht»
Im Film sagt SVP-Stratege Heer: Nicht nur die Richter an internationalen Gerichten würden problematische Entscheide fällen, sondern auch die eigenen. Einzelne Urteile des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylrecht und des Bundesgerichts zu verurteilten Ausländern sind der SVP ein Dorn im Auge. Die Schweizer Richterin am europäischen Menschenrechtsgerichtshof und Völkerrechtsprofessorin Helen Keller sagt, mit der Ausschaffungsinitiative habe die SVP die Gewaltenteilung angegriffen. Keller: «Ein Volk ist kein Gericht, das hat die SVP nicht begriffen.»
Schwächt die SVP Parlament und Bundesrat?
Ende Februar werden wir über die Durchsetzungsinitiative befinden. Sie will in die Bundesverfassung schreiben, bei welchen Delikten kriminelle Ausländer automatisch ausgeschafft werden müssen. Das Parlament, das eigentlich die Gesetze für die Umsetzung von Initiativen ausarbeitet, wird bei Annahme der Durchsetzungsinitiative nichts mehr zu sagen haben. Mit ihren Initiativen versuche die SVP, die Macht immer mehr beim Volk zu kumulieren und Parlament und Bundesrat zu schwächen, sagt Adrian Vatter, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Bern. In einer Demokratie aber müssen sich die Staatsorgane kontrollieren. Vatter: «Wenn die Demokratie nur noch als Wille des Volkes verstanden wird, könnte eine Tyrannei der Volksmehrheit entstehen».
Reformideen bisher chancenlos
«Die Macht des Volkes» stellt eine Diagnose, aber der Film bietet kein Rezept. Was also tun? Reformideen gehen in zwei Richtungen: Die Unterschriftenzahl erhöhen, oder schon vor der Unterschriftensammlung abklären, ob der Initiativtext die grundlegenden Menschenrechte einhält. Aber daraus ergeben sich Folgefragen: Welche Menschenrechte sind gemeint? Wer soll die Abklärung machen, die Bundeskanzlei, das Parlament oder das Bundesgericht? Weil diese Reformen die Verfassung ändern, braucht es das Volks- und Ständemehr. Was Wunder waren solche Vorschläge bisher chancenlos: Es findet sich keine Volksmehrheit, die ihre Rechte beschneiden will.
Ich finde es aber wichtig, überhaupt eine Debatte über die direkte Demokratie und ihre Grenzen zu lancieren. Falls mein Film dazu beitragen kann, hat er sich gelohnt.