Muriel Spitzer: Gerade wird der internationale Gedenktag zum Holocaust begangen. Weshalb ist es wichtig, sich auch 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz an den Holocaust zu erinnern?
Jehoschua Ahrens: Obwohl es viele andere Völkermorde gab – und leider auch noch gibt – ist die Shoa, der Holocaust, einzigartig in der Weltgeschichte, weil damals ganz systematisch ein Volk ausgerottet werden sollte. Der Gedenktag muss aber nicht zwingend nur eine Erinnerung an die ermordeten Juden sein, sondern eine Erinnerung daran, dass so etwas nicht mehr passiert.
Wenn man sich die Entwicklungen heute in Europa anschaut, der wachsende Antisemitismus, bis in die Mitte der Gesellschaft, oder auch die Islamophobie, so ist eine Erinnerung dringend nötig. Oder wenn man in den Nahen Osten blickt, wo die Jesiden vom IS verfolgt und ermordet werden, stellt man fest:
Die Welt ist noch nicht so weit, dass Minderheiten ethnisch, kulturell und religiös frei leben dürfen.
Im Film «Riwkas Stamm» konnten alle Geschwister dem Schicksal des KZ entkommen. Dennoch haben auch sie Schlimmes erlitten, mussten hungern, sich verstecken, haben in Angst vor den Nazis gelebt. Ihren Kindern und Enkeln haben sie jedoch nie davon erzählt. Wie ist das zu verstehen?
Das ist bei Holocaust-Überlebenden häufig der Fall. Es gibt zwei Arten, wie Überlebende mit ihrem Schicksal umgehen. Entweder sie erzählen in der Familie überhaupt nichts von ihrem Schicksal – um die Familie zu schützen oder häufig auch aus Eigenschutz.
Oder aber es gibt Familien, in denen fast obsessiv über das Erlebte geredet wurde. Und das hat dann häufig das ganze Leben überschattet. Ein Beispiel dafür ist der berühmte israelische Popmusiker Yehuda Poliker. Er stammt aus einer griechisch-jüdischen Familie, beide Eltern überlebten das KZ. Seine Mutter liess ihre Erlebnisse äusserst intensiv ins Familienleben einfliessen. Und obschon Poliker ein toller Sänger ist, stottert er beim Sprechen bis heute. Das ist eine Folge dieses Traumas, das die Familie belastete.
Übrigens beschränkt sich dieses Schweigen nicht nur auf die Opferseite, bei den Nazis und deren Familien kann man dieses Phänomen auch beobachten.
Die Generation, die den Krieg und die KZs noch erlebt hat, stirbt langsam. Verstummen damit die Stimmen, die uns an dieses dunkle Kapitel erinnern?
Es ist nicht die Aufgabe der Zeitzeugen oder der Opfer, an den Holocaust zu erinnern. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es gibt viele Projekte zur Erinnerung an die Shoa. Hollywood-Regisseur Steven Spielberg engagiert sich in dieser Sache stark, mit diversen Projekten. Es gibt auch viele gute Dokumentarfilme – ich denke da an Claude Lanzmanns Monumentalwerk «Shoa». Aber auch ein Film über ein Einzelschicksal wie die Dokumentation «Riwkas Stamm» hilft, dass der Holocaust nicht in Vergessenheit gerät.
Zum Film «Riwkas Stamm – Wie ein Bub seine Liebsten vor dem KZ rettete»
Sabrina van Tassel (*1975 in Neuilly-sur-Seine) hat in die Familie eingeheiratet und per Zufall die unglaubliche Geschichte der Familie Zalcberg entdeckt. Die Filmautorin lebt und arbeitet in Paris. Sie hat diverse Dokumentarfilme realisiert («L'effet papillon», 2007; «Goa: Les soldats perdus d’Israël», 2010).