«Wir haben verloren. Sie sind viele, Millionen, sie sind in der Mehrzahl», schrieb kürzlich der Journalist, Kriegsreporter und Tschetschenien-Veteran Arkadij Babtschenko in einem Blog.
Ein bissiger Text darüber, dass sich eine Mehrheit der Russinnen und Russen seiner Meinung nach wehrlos der täglichen (Fernseh)-Propaganda hingibt und freiwillig auf die Freiheiten verzichtet, die ihr eigentlich die 90er Jahre nach dem Ende der Sowjetunion geboten hätten.
Und noch schlimmer sei, beklagt er sich, dass es diesem Land mit den fernsehgeschädigten «Zombies» nicht reiche, seine eigenen Menschen zu töten. Es müsse unbedingt auch noch andere umbringen. Er meint damit offensichtlich die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine. Babtschenko schliesst mit dem Gedanken, dass er nicht mehr in einem Land lebe, sondern nur mehr auf einem Territorium. Auch eine Nation gebe es nicht mehr, sondern nur noch geschwächte Zombies, die alle hassen würden, die nicht in ihrer Herde mitliefen.
Ein radikaler emotionaler Ausbruch, ein vielleicht zu hartes Urteil. Aber ein Hinweis auf die Gefühlslage vieler liberaler, demokratisch und prowestlich gesinnter Menschen in Russland. Es sind diejenigen, die mit dem derzeit wohl wichtigsten Slogan des Landes: «Krim-nasch», die «Krim gehört uns», nichts anfangen können. Verantwortliche Bürger, die sich nicht an der rechtswidrigen Annexion eines Landstriches erfreuen können, und dies auch nicht mit angeblich historischer Gerechtigkeit rechtfertigen wollen.
Öffentliche Kritik kann unangenehm werden
Die russische Gesellschaft hat sich an dieser Frage gespalten. «Krim-nasch» – das sind wir, die Russen. Wer nicht «Krim-nasch» sein will, ist ein «Nationalverräter» oder eine «Marionette der Amerikaner». Es sei sehr unangenehm, ein öffentlicher Gegner von «Krim-nasch» zu sein, sagte mir kürzlich ein russischer Politologe, der diese Position auch in politischen Talkshows vertreten hatte. Anfeindungen in der Familie habe es gegeben, andere seien entlassen worden und er selbst habe schlussendlich gemerkt, dass man ihn nicht seiner Argumente wegen in die Sendungen eingeladen habe, sondern weil man dort Andersdenkende als Feindbilder aufbauen wolle. Darum bleibe er inzwischen solchen Diskussionen fern.
Präsident Wladimir Putin geniesst einen grossen Rückhalt im Volk. Eigentlich überraschend, wenn man die Wirtschaftszahlen ansieht. Das Land steckt in einer Rezession, auch die Prognosen für die nächsten Jahre sind nicht rosig. Die Reallöhne sinken und die Preise steigen – insbesondere beim Import, wegen des schwachen Rubels. Gespart wird – ausser bei der militärischen Aufrüstung – fast überall. Bei der Bildung, der Gesundheit oder den Renten.
Putinfreundlich und lethargisch
Und doch gibt es kaum Proteste. Strassenkundgebungen unzufriedener Bürger? Fehlanzeige. Denkzettel an die alles dominierende Kreml-Partei «Einiges Russland» an der Urne? Auch nicht, wie kürzlich Regionalwahlen im ganzen Land gezeigt hatten.
Eine Allianz aus demokratischen, liberalen Parteien kam in dem Wahlkreis, wo sie zugelassen worden war, gerade mal auf zwei Prozent. Ihr Potential – wenn die Wahlen denn frei und fair wären – wird auf kaum mehr als 20 Prozent geschätzt.
Gründe für die politische Lethargie und Trägheit gibt es viele. Ein wichtiger: Die 90er Jahre nach dem Ende der Sowjetunion waren materiell gesehen schlimmer, die Armut grassierte, viele Menschen verloren ihr ganzes Vermögen. Wladimir Putin kam im Jahr 2000 genau im rechten Moment an die Macht. Am Ende einer Wirtschaftskrise – und am Anfang eines nie erwarteten Gas- und Öl-Booms, der ihm auf einmal weit über 2000 Milliarden Dollar in die Kassen spülte. Das machte den Aufschwung einfacher, und der wird bis heute mit Putins Person gleichgesetzt.
Das allein erklärt seinen Erfolg nicht. Putin spricht zum Beispiel gemäss Wähleranalysen am meisten Frauen zwischen 30 und 50 Jahren an. Kein Wunder: Ein Mann, der kaum Alkohol trinkt, täglich Sport treibt, viel arbeitet und sich von seiner Frau erst dann trennt, nachdem die Kinder erwachsen sind, ist hierzulande schon ein Idealtypus.
Als Aussenstehender wünscht man sich für Russland eine funktionierende parlamentarische Demokratie. Ein Wettkampf der besten Kräfte und Strömungen. Ein «check and balance»-System mit unabhängigen Gerichten, freien Wahlen, demokratisch wechselnden Regierungen und nicht zuletzt mit freien Medien. Das würde Wohlstand, Stabilität und eine nachhaltige, nicht mehr rohstoffabhängige Entwicklung bringen.
Hoffen auf den «Zaren»
Letzteres wünschen sich die meisten Russinnen und Russen. Aber für viele sind nicht die obengenannten demokratischen Institutionen der richtige Weg dazu, sondern das ur-russische Vertrauen und Hoffen auf den starken «Zaren» an der Spitze des Riesenlandes. «Path dependency», die Abhängigkeit vom historischen Weg, nennen das die Politikwissenschafter. Und wenn dieser Zar auch noch auf allen staatlich kontrollierten Fernsehkanälen ununterbrochen als Retter, nationaler Leader und Superman porträtiert wird, dann ziehen die Russen den Status Quo vor, anstatt für Veränderungen zu kämpfen, von denen sie fürchten, dass es danach nur schlimmer wird.
TV-Propaganda versus Internet
Das Fernsehen, über das fast 90 Prozent der Bevölkerung ihre Informationen beziehen, spielt eine so wichtige Rolle, wie man es sich bei uns gar nicht vorstellen kann. Im Ukrainekonflikt und jetzt auch wieder bei der Syrienfrage werden dermassen fiktive Scheinrealitäten konstruiert, dass sich die Anhänger der «Fernseh-Fraktion» und diejenigen der «Internet-Fraktion» (also Menschen, die sich unabhängige, kritische Informationen aus dem Internet holen) kaum mehr miteinander unterhalten können.
Rubel-Schock? Dann gibt’s halt Ferien in Sotschi statt in Spanien. Importverbot für französischen Käse? Dann tut’s halt auch einer aus Krasnodar.
Die «Fernseh-Fraktion», die «Krim-nasch» Fraktion – sie macht, wie Journalist Babtschenko richtig schreibt, wohl die Mehrheit aus im heutigen Russland. Aber das soll per se nichts Schlechtes über sie heissen. Menschen, die mir persönlich sehr nahe stehen, gehören auch zu dieser Gruppe. Es sind Menschen, die offensichtlich ohne die demokratischen Freiheiten leben können. Sie geniessen die alltäglichen persönlichen Freiheiten in einem unfreien System und sind dabei durchaus glücklich. Ein junger Berufskollege aus St. Petersburg sagte mir letzthin, dass in seinem Freundeskreis eigentlich fast alle das Leben in vollen Zügen auskosten würden. Rubelschock? Dann gibt’s halt Ferien in Sotschi statt in Spanien. Importverbot für französischen Käse? Dann tut’s halt auch einer aus Krasnodar.
Die Russen sind hart im Nehmen, sie können sich anpassen und improvisieren. Und das gilt sogar für die ärmsten der Gesellschaft – deren Anteil hat seit der Krimkrise und des Ölpreiszerfalls um ein paar Millionen Menschen zugenommen.
Das Problem in der heutigen russischen Gesellschaft ist: Jede und jeder kann unerwartet ein Opfer des Staates werden. In der Schule, im Krankenhaus, in der Armee und vor allem auch im täglichen Geschäftsleben. Der Staat zeigt sich dann in Form eines korrupten Schuldirektors oder Arztes, eines sadistischen Vorgesetzten in der Armee oder in einer kriminell handelnden Steuer- oder anderen Behörde, die nicht davor zurückschreckt, legitime Geschäftsbesitzer mit Strafverfahren und Gefängnis zu quälen und dann ihr Business zu übernehmen. Wer in diese Mühle gerät, hat kaum Chancen, heraus zu kommen. Hoffen auf den Rechtsstaat, den Aufschrei in der Gesellschaft oder die Hilfe nichtstaatlicher Organisationen? Meist vergebens.
Es ist eine ständig lauernde Gefahr, eine Unsicherheit, dieses Ausgeliefertsein an eine Macht, deren Vertreter sich wie absolutistische Monarchen aufführen, und die nicht an ihrer Leistung am Volk sondern an ihrer Loyalität gegenüber dem «nationalen Führer» gemessen werden.
Die hoch korrupte Macht- und Verwaltungselite und das Volk – sie sind durch einen tiefen Graben getrennt. Kein Wunder sind Parlament und Regierung seit Monaten daran, ausländische Medienbesitzer aus dem Lande zu ekeln und ausländischen Nichtregierungsorganisationen das (Über-)Leben schwer zu machen. Das Ausgeliefertsein der Masse gegenüber dem Staat und seinen Vertretern soll nicht angetastet werden.
Es sind denn auch die alltäglichen Gefahren, die Vertretern der gebildeten Mittelschicht Angst machen. Dass der Sohn in die Armee muss, und sich auf einmal im Krieg im Donbas wiederfindet. Dass die Ambulanz nicht kommt, wenn es ein Notfall erfordert oder dass das Land eines Tages vollends wieder ins Chaos rutscht.
In Zeiten, da Täuschung und Lüge allgegenwärtig sind, ist das Aussprechen der Wahrheit ein revolutionärer Akt.
Wer sich damit, gerade auch wegen der Perspektiven für die eigenen Kinder, nicht arrangieren kann, der hat es derzeit mental schwierig in Russland. Die Tatsache, dass ab diesem Schuljahr die «verbrecherische Annexion der Krim» (Zitat Angela Merkel) in den Schulen als russische Heldentat und Rettung vor dem Faschismus gelehrt wird, bringt kritische Eltern in eine schwierige Situation. Und inwieweit will man seinem Kind beibringen, dass seine Regierung, inklusive des Präsidenten, schamlos lügen, wenn man dabei riskiert, dass es in der Schule zum Outsider wird. «In Zeiten, da Täuschung und Lüge allgegenwärtig sind, ist das Aussprechen der Wahrheit ein revolutionärer Akt», dieses Zitat von George Orwell habe ich hier in letzter Zeit oft gelesen.
Zu solchen revolutionären Akten – und zu Protest – sind nicht mehr viele bereit. Insbesondere auch weil das Regime die Schrauben nach den Demonstrationen von 2012 massiv angeschraubt hat. Wer heute demonstriert und Pech hat, kann jahrelang hinter Gitter landen, wie die Ereignisse der sogenannten 6. Mai Demonstration, die auch im Film vorkommen, zeigen. Protest ist für viele nicht nur darum keine Option mehr. Sie ahnen, dass bei einem Sturz Putins wohl nicht proeuropäisch, demokratisch gesinnte Kräfte an die Macht kämen, sondern vielleicht chauvinistische, imperialistische und faschistoide Gruppierungen.
Die kritischsten und kreativsten Köpfe wandern aus
Wenn die Option Protest wegfällt, bleibt für viele nur mehr die Auswanderung. Die Auswanderungszahlen waren, wie eine regierungsnahe Zeitung schreibt, 2014 so hoch wie noch nie seit Putins Herrschaft. Über 200'000 Menschen. Dramatisch ist das an sich (noch) nicht – aber schlimm ist die Tatsache, dass es sich dabei um die gescheitesten, kritischsten und kreativsten Köpfe des Landes handelt. Der Langzeitschaden davon ist gross. Genauso wie davon, dass derzeit vor allem in die Aufrüstung investiert wird, andere wichtige Investitionen ausbleiben und das Geschäftsklima nachhaltig geschädigt ist. Die grossen Modernisierungspläne von 2008 unter Präsident Medwedew – sie sind Makulatur geworden.
Perspektiven für die Zukunft
Die Perspektiven? Alles ist möglich. Diskutiert wird hier oft die Wahl zwischen einem evolutionären oder revolutionären Prozess. Es soll durchaus Stimmen in der Elite geben, sagen mir Politologen, die auch der Meinung sind, dass Putins Weg in die Sackgasse führt. Sie hoffen nach wie vor darauf, dass er das – auch auf Druck internationaler Sanktionen und tiefer Rohstoffpreise – früher oder später einsieht und das Land nachhaltig reformiert. Stellt sich die Frage: Wie(so) sollte er, wenn er es doch in den letzten 15 Jahren nicht geschafft oder nicht gewollt hat? Eine Revolution? Besser nicht. Revolutionen haben Russland bereits früher in tiefes Unglück gestürzt – das könnte auch diesmal der Fall sein.
Russland wird frei sein, aber...
Meine Prognose: ein kontinuierlicher, gemächlicher Abstieg oder im besten Falle eine politische und wirtschaftliche Stagnation über Jahre hinweg. Mit tieferem Lebensstandard, schlechteren Produkten und Dienstleistungen. Mit einer politischen Elite, die sich bereichert und ihr Vermögen weiterhin im westlichen Ausland platziert. Einer intellektuellen Elite, die real oder innerlich emigriert. Ein trauriges Szenario für die Russinnen und Russen? Nicht unbedingt. Es gab schon schlimmere Zeiten.
Ereignisse wie die olympischen Spiele in Sotschi, die Fussball-WM oder die «Heimholung» der Krim sorgen für kollektiven, nationalen Stolz und Hochgefühl und lassen die private Misere in den Hintergrund rücken. Der Mensch wird frei geboren, doch überall liegt er in Ketten, hat schon Jean-Jacques Rousseau gesagt. Aber ein Volk, das über Jahrhunderte in Ketten gelebt hat, tut sich irgendwie schwer diese Ketten abzuwerfen. Bei den inzwischen ganz kleinen Demonstrationen hier lautet ein beliebter Ruf: «Rossija budet swobodnoi» – Russland wird frei sein. Das glaube ich auch: aber nicht heute, morgen oder übermorgen.