Als ich 2005 erfuhr, dass drei Schweizer Bauern einen verlotterten, staatlichen Milchwirtschaftsbetrieb in Russland gekauft hatten und versuchten in der russischen Provinz eine neue Existenz aufzubauen, konnte ich das kaum glauben. Ich hatte allergrössten Respekt vor diesem Unterfangen und beschloss, einen «DOK» Film über die drei unerschrockenen Auswanderer zu realisieren. Der Film hat seither unzählige Schweizerinnen und Schweizer auf den Betrieb «Schweizer Milch» in die Region Kaluga, 200 Kilometer südlich von Moskau reisen lassen.
Nicht alle fanden ihr Glück
Mich beeindruckte deshalb die Energie, mit der die drei Pioniere all dies auf sich nahmen, um in Russland zu erleben, was ihnen in der geordneten kleinen Schweiz fehlte: Täglich neue Herausforderungen, unendliche Weite, unendliche Möglichkeiten und etwas Abenteuer. Doch es blieb ein kurzer Traum, den sie zu dritt träumten. Wir haben 2009 in der Sendung «Fortsetzung folgt» aufgezeigt, dass Sepp Lussi und Jakob Bänninger den Hof 2008 verliessen, wogegen Hans Michel beschloss, in Russland zu bleiben. Inzwischen ist er Direktor des Betriebs und hat eine Familie gegründet.
Bewunderung für Putin allgegenwärtig
Im Sommer 2014 traf ich den Auslandschweizer zusammen mit seiner russischen Frau Julia, ihrer Tochter Nastja und dem kleinen gemeinsamen Sohn Johann in Bern. Die Familie machte in Michels Haus im Berner Oberland Ferien. Zu diesem Zeitpunkt war die Ukrainekrise voll im Gange. Kurz zuvor hatte mich eine russische Freundin aus Nischni Nowgorod besucht, es war ein Abend, der mich erschütterte und ratlos zurück liess. Sie war derart voller Bewunderung für Putins Politik und sah im Westen ausschliesslich den Aggressor, so dass keine ausgewogene Diskussion möglich war.
Die Frage, wie es zu dieser in Russland so verbreiteten Überzeugung kam, weshalb Putins Popularitätswerte laut neuen Umfragen mit über 80 Prozent so hoch sind wie nie zuvor, beschäftigte mich. Nach dem Treffen mit Hans Michel und seiner Familie war ich überzeugt, dass unsere alte Bekanntschaft eine grosse Chance war. Mit ihnen würden wir filmisch ins russische Leben eindringen können und sehen, wo Michels heute stehen, was die Menschen in ihrer Umgebung denken und was sie bewegt .
Blick auf die Oligarchen
Und dann war da noch der Freund und Nachbar von Hans Michel, der Schreinermeister Jörg Duss. Mit ihm hoffte ich, Zugang zum reichsten Moskauer-Milieu zu bekommen. Der kreative Luzerner lebt schon seit 18 Jahren in Russland, ist für die Superreichen tätig, kümmert sich aber auch mit einer Schweizer Stiftung im Gebiet Kaluga um die Bedürftigen. Nachdem ich auch ihn und seine Freundin Natalija während ihrer Sommerferien in der Schweiz kennengelernt hatte und sie sich bereit erklärten mitzumachen, war die Bahn frei für diesen Film .
Mit dem Verstand kann man Russland nicht erfassen, nur glauben kann man an das Land.
Vorgefasste Meinung gerät durcheinander
Bei den Dreharbeiten wurden wir nicht nur physisch im stundenlangen Moskauer Stau weich geklopft und auf holprigen Wegen durchgeschüttelt. Auch meine vorgefassten Meinungen gerieten etwas durcheinander. Nicht meine Skepsis gegenüber Putins Machtpolitik, sie ist geblieben. Doch die russische Sicht der Ukrainekrise und die Bewunderung von Präsident Putin sind nicht nur von der Propaganda am Staatsfernsehen, sondern auch von der russischen Geschichte beeinflusst. Zudem wurde mir klar, dass auch meine Sicht und der grösste Teil unserer Berichterstattung geprägt sind von unseren eigenen, westlichen Werten und Interessen.
1866 schrieb der Dichter Tjuttschew seine berühmten Zeilen: «Mit dem Verstand kann man Russland nicht erfassen, nur glauben kann man an das Land». Auch wenn dies zur Zeit vielen schwerfällt – Hans Michel und Jörg Duss sind damit in all den Jahren in ihrer fremden Heimat gut gefahren.