Ein Büro-Hochhaus, mitten in der Stadt Zürich, zehn Uhr nachts. Ein Securitas schreitet mit seiner Taschenlampe durch die leeren Stockwerke, nur an einem Ort brennt noch Licht: Bei Ralph Wicki im Studio. Mutterseelenallein sitzt der mittlerweile 54-jährige Radiomoderater vor seinen Reglern und Schiebern – per Headset verbunden mit der halben Schweiz. Während ein Musikstück läuft, hat er nur kurz Zeit nachzufragen, wer denn sein nächster Anrufer sei und weshalb er mit ihm reden wolle.
Der ganz normale Mut
Die Sendung «Nachtclub» ist kein exklusiver Club – sondern einer, der allen offen steht. Dutzende Zuhörer – und vor allem Zuhörerinnen – rufen jede Nacht an und erzählen aus ihrem Leben. Die Geschichten haben immer zu tun mit einem Thema, das Wicki vorgibt. Zum Beispiel «Eifersucht und alleine sein».
Wie kann es sein, frage ich mich, dass die sonst doch eher zurückhaltenden Schweizer einfach in eine Radiosendung anrufen und Wicki davon erzählen, wie sie betrogen wurden? Von unangenehmen, ja peinlichen Situationen berichten, im vollen Bewusstsein, dass nicht nur Wicki, sondern 250’000 Menschen ihrer Geschichte lauschen? Braucht es dazu Mut, ist es Leichtsinn?
Vertrauen in der Nacht
«Ich versinke in das, was mir die Leute erzählen», sagt Wicki. «Ich nehme die Leute sehr ernst, bewerte nicht, was sie sagen, halte aber auch mit meinen eigenen Emotionen nicht zurück.» Seit nunmehr 18 Monaten führt Ralph Wicki so durch die Nacht, und es ist verblüffend, wie er innert Kürze das Vertrauen seiner Zuhörerschaft erobert hat.
Zum Beispiel jenes von Andreas. Der bald 40-jährige Mann sitzt abends oft alleine zu Hause, seit er von Frau und Kindern verlassen wurde. Er hat Wicki in die Sendung angerufen und ihm davon erzählt, wie demütigend die Trennung war, wie sehr er seine Kinder vermisse. «Das hat mir gut getan», erzählt mir Andreas, als ich ihn Tage nach der Sendung besuche. Sein Anruf war nicht einfach Wehklagen, nein: «Ich wollte den Zuhörern zeigen, dass auch Männer unter der Trennung von den Kindern leiden», sagt Andreas.
Edith, die aus Schwende bei Ralph Wicki anrief, sprach über Trauer. Ihr Mann ist vor drei Jahren gestorben. Sie weiss im Nachhinein nicht so recht, ob ihr der Anruf in die Sendung etwas gebracht hat. Sie wollte einfach über ihre Trauer sprechen und hofft so, auch anderen Mut zu machen, die einen lieben Menschen verloren haben.
Bis in den Tag hinein
Seelenstriptease am Radiomikrophon? Mich hat erstaunt und berührt, wie offen, liebevoll und verbunden es im «Nachtclub» zu und her geht – zwischen Menschen, die sich nicht kennen, die sich nie sehen werden, entsteht über den Resonanzkörper Ralph Wicki eine magische Verbundenheit. Für eine Nacht zwar nur, aber mit Wirkung weit in den Tag hinein.
Eine Radiosendung kann Wunden heilen.