Es war ein regnerischer Samstagmorgen im Jahr 2013, nicht mal zwei Monate nach der Tragödie an der Primarschule «Sandy Hook», wo ein Attentäter 28 Menschenleben, darunter jenes von 20 Kindern, innert Minuten mit einem Sturmgewehr auslöschte.
Mein Kameramann und ich fuhren einer gesichtslosen Shoppingmeile entlang im konservativen Bundesstaat North Carolina. Neben einem Hundesalon hören wir Schüsse: Ein Dutzend Lehrerinnen und Lehrer üben in einem Waffentrainingsraum mit Plastikpistolen. Der Hintergrund aber ist todernst: Diese Lehrer werden künftig im Klassenzimmer Waffen tragen. In North Carolina muss man nicht mehr als acht Stunden Training vorweisen, um Waffen verdeckt tragen zu dürfen. Die Logik der Lehrer:
Ein hypothetischer Gewaltakt kann nur mit Gewalt bekämpft werden.
Verfassungsmässiges Recht auf Waffen: Wie zur Siedlerzeit
Kindergärtnerin Jessa, eine zierliche Frau anfangs 20, macht die Schussübungen mit Feuereifer. Bereits heute bewache ein bewaffneter Sicherheitsmann ihre Schule. Aber das reiche ihr nicht. Auf meine Frage, ob es nicht besser wäre, Waffen zu verbieten, sieht sie mich verständnislos an: «Wie sollen wir uns dann beschützen?» Die Stimmung kippt.
Waffentrainer Jason Mitchell schaut mich finster an. Die Frage nach dem Sinn von Waffen stelle sich nicht. Er frage sich vielmehr, warum jemand das verfassungsmässige Recht auf Waffenbesitz einschränken wolle.
Inmitten dieser schiesswilligen Lehrer fühle ich mich über 200 Jahre zurückversetzt. Als wären wir noch im Jahr 1791, als die USA unabhängig und der Zusatzartikel zur Verfassung geschaffen wurde, damit die Siedler Land, Frau und Kinder gegen die Ureinwohner des Landes, die Indianer, «verteidigen» konnten.
Die Barbiepuppe des US-Bürgers
Das Recht auf Waffenbesitz hält die Mehrheit der Amerikaner auch zwei Jahre nach dem Amoklauf an der Primarschule «Sandy Hook» in Newtown, Connecticut für wichtiger als Gesetze, die eine strengere Kontrolle von Waffen fordern.
Nach dem Massaker von Newtown wollte US-Präsident Obama den Besitz von privaten Sturmgewehren verbieten, scheiterte aber im Parlament. Ein Maschinengewehr scheint zur DNA des männlichen Amerikaners zu gehören. «Sie ist unsere Barbiepuppe», sagte mir Logan Knott, Student und achtfacher Waffenbesitzer auf einer Schiessrange.
Wir können Gewalt nicht gesetzlich regeln, sie passiert einfach.
Auf meine Nachfrage, ob man damit Massenschiessereien in Kauf nehme, sagt er: «Es ist furchtbar, das so zu sagen, aber es ist so.»
«Wenn Sie Leute umbringen, ist das Ihr Problem»
Schockiert hat mich die Unverfrorenheit des 19-jährigen Waffenhändlers Justin Mask, den ich auf einer Waffenshow in South Carolina kennen lernte.
Ich gab vor, mich für ein halbautomatisches Sturmgewehr vom Typ AR-15 zu interessieren. Dieselbe Waffe, die der Attentäter von Newtown verwendet hatte. «Ich verstehe aber absolut nichts von Waffen», sagte ich. Ich hätte auch keinen Strafregisterauszug. Kein Problem, meinte Justin und hatte Recht: 40 Prozent der Waffen in den USA werden ohne Sicherheitsprüfung verkauft.
Gemäss Gesetz müssen nur registrierte Waffengeschäfte so genannte «Background Checks» einfordern. «Aber ich weiss wirklich nicht, wie mit der Waffe umgehen», insistierte ich. Justin winkte ab. «Ich mache diesen Job fürs Geld, wenn Sie damit Menschen umbringen, dann ist das Ihr Problem.»
Die gesetzliche Lizenz zum Töten
Ich war noch keine drei Monate in den USA, als der Fall Trayvon Martin landesweit Schlagzeilen machte: Der unbewaffnete junge schwarze Mann mit dem Kapuzenpulli war in Florida vom weissen Nachbarschaftswächter George Zimmermann erschossen worden. Notwehr sei es gewesen, sagte Zimmermann und berief sich auf das so genannte «Stand your Ground»-Gesetz.
Es erlaubt dem Waffenbesitzer, vor einem mutmasslichen Angreifer nicht zurückzuweichen, ja, ihn zu erschiessen, wenn der Waffenträger sich bedroht fühlt.
Ein Ermessensentscheid, Kritiker sprechen von einer Lizenz zum Töten. Eine Mehrheit von 30 Staaten kennt das «Stand your Ground»-Gesetz. Florida war der erste Staat, der es vor zehn Jahren einführte.
Mitverfasserin war die damalige Präsidentin der National Rifle Organisation (NRA). Und die NRA ist eine der mächtigsten Lobbyorganisationen in Washington DC: Für den letzten Präsidentschaftswahlkampf gab sie über 18 Millionen Dollar aus.
Zukunft: Mehr Waffenkontrolle in den Bundesstaaten
Der Präsident hat vor dem Thema Waffenkontrolle indes kapituliert. Das untrügliche Zeichen dafür ist, dass Barack Obama das Thema an seiner diesjährigen «State of the Union»-Rede nicht einmal mehr erwähnte.
Kein Wunder, haben die Republikaner im letzten Herbst nach dem Repräsentantenhaus auch die Mehrheit im Senat gewonnen und dominieren somit das Parlament.
Dafür gibt es Bewegung in den Bundesstaaten: Seit dem «Sandy Hook»-Massaker wurden 99 Gesetze erlassen, die die Waffenkontrolle verschärfen. Im Staat Washington zum Beispiel sind jetzt auch Strafregisterauszüge bei Verkäufen an Waffenshows Pflicht. Und in Kalifornien können Familienmitglieder einen Richter auffordern, Waffen aus einem Haushalt zu entfernen, wenn der Besitzer ihnen gefährlich erscheint.
Nur: In 88 anderen Fällen seit 2012 wurde die Waffenkontrolle gelockert. Im Land mit der Wildwestmentalität bleibt Waffenkontrolle Sisyphusarbeit.
Seit dem Massaker an der «Sandy Hook»-Schule wurde an amerikanischen Schulen 100 mal geschossen. Jedes Jahr sterben in den USA 30'000 Menschen durch Schusswaffen.