SRF DOK: Was für ein Mensch war Moritz Conradi in Ihren Augen?
Helen Stehli: Moritz Conradi war ein verwöhnter Junge aus reichem Elternhaus, dessen Zukunft rosig schien, bis der Erste Weltkrieg und 1917 die Russische Revolution seine Welt erschütterten.
Sicher war er impulsiv und auf gewisse Weise auch mutig, gleichzeitig aber undiszipliniert und traumatisiert von seinen Kriegseinsätzen im Ersten Weltkrieg und im Bürgerkrieg. Dass er nach all diesen Erfahrungen an Rache dachte und die Kommunisten als grösstes Übel der Menschheit betrachtete, kann ich nachvollziehen, nicht aber, dass er in Lausanne zur Pistole griff.
Er hatte wohl auch etwas Irres an sich, das ihn die Tat ausführen liess. Ein Terrorist seiner Zeit, der mit seinem Gewaltakt das Ende des kommunistischen Systems erzwingen wollte – das hat schon etwas Grössenwahnsinniges.
Wie sind Sie überhaupt auf diese Geschichte gestossen?
Das war ein Zufall. Bei einem Nachtessen fragte mich der ehemalige «Tagesschau»-Redaktor und Bündner Hansmartin Schmid, ob ich schon von Moritz Conradi gehört habe. Er erzählte mir die ganze Story von Moritz Conradi in groben Zügen, und mich hat das nicht mehr losgelassen. Hansmartin gab mir einen Artikel, den er über Conradi geschrieben hatte, da fing ich Feuer für diese Geschichte und begann mit der Recherchearbeit.
Sie haben Stunden in Archiven verbracht und regelrechte Schätze gehoben – auch in Russland. Ging das alles glatt, haben die Ihnen bereitwillig Tür und Tor geöffnet?
Ich muss schon sagen, im Vergleich zu Russland ist die Arbeit in und mit den Schweizer Archiven ein relaxter Sonntagsspaziergang. In Russland war es eine mühsame Kletterpartie.
Ohne meine Mitarbeiterin in St. Petersburg, eine junge Historikerin, hätte ich mehrfach die Nerven verloren und vielleicht sogar aufgegeben. Wirklich anstrengend ist die russische Bürokratie. So benötigte ich zum Beispiel für jedes Foto, das ich suchte, die Unterschrift des SRF Direktors höchstpersönlich. Ich musste diese Briefe per Post nach Russland schicken. Aber der Aufwand hat sich gelohnt, am Schluss bekam ich aus Moskau und St. Petersburg all die schönen Bilder, die ich brauchte.
Welcher Aspekt dieser komplexen Geschichte hat Sie am meisten beeindruckt?
Am meisten beeindruckt hat mich schon das Schicksal von Moritz Conradi, sein tiefer Fall von der Höhe einer sorglosen Jugend in Wohlstand im schönen St. Petersburg zum Mörder in der Schweiz. Zwar erschien er nach seinem Attentat für kurze Zeit in den Schlagzeilen der Weltpresse, wie er sich das wohl gewünscht hatte, doch dieser Ruhm war natürlich fragwürdig.
Danach war er eine verkrachte Existenz, Alkoholiker, er biss eine Cabaret-Tänzerin in den Hals, ging für Jahre in die Fremdenlegion nach Algerien und starb 51-jährig in Chur. Sein Tod wurde nur noch in kleinen Zeitungsnotizen erwähnt. Ein abenteuerliches Leben im Strudel der Weltgeschichte zwischen Russland und der Schweiz. Und ein Attentat, das unter den damaligen historischen Voraussetzungen seinerseits Geschichte machte, indem es die Schweizer Aussenpolitik 23 Jahre lang belastete.
Das Attentat von Moritz Conradi fand 1923 statt, es gibt keine Zeitzeugen mehr, gewisse Szenen wurden für den Film nachgestellt. Eine aufwändige Sache.
Dieser Film war für mich diesbezüglich wirklich eine Herausforderung. In meinen bisherigen Dokfilmen haben wir nur selten gewisse Szenen symbolisch und ohne Dialoge nachgestellt. Hier aber war der Film ohne solche Szenen unmöglich. Mit Kameramann Laurent Stoop haben wir die Szenen entwickelt, er hatte viele gute Ideen und setzte sie super um, auch Improvisation war wichtig! Glück hatten wir mit dem Schauspielschüler Lucas Riedle, der für uns sehr überzeugend den Moritz Conradi spielt.
Etwas ganz besonderes erlebten wir jedoch beim Dreh der Mordszene in Lausanne. Als die drei Amateurschauspieler aus Genf ins Lausanner Hotel kamen, traute ich meinen Augen nicht. Ich kannte das Foto von einem von ihnen, die zwei anderen kannte ich nur von einer mündlichen Beschreibung. Doch als die drei den Speisesaal betraten, konnte ich es kaum fassen: Einer von ihnen sah exakt aus wie das Mordopfer Worowski! Unglaublich.
Eine weitere Herausforderung bestand darin, aus diesen Szenen, kombiniert mit alten Fotos, Filmen, Expertinnen und Experten sowie den Originalschauplätzen einen runden Film zu bauen. Dave D. Leins, der den Film geschnitten und Manuel Benz, der die Filmmusik komponiert hat, haben mit ihrer Arbeit wesentlich dazu beigetragen. So eine grosse Kiste ist Teamarbeit!
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Bild 1 von 15. Der Attentäter Moritz Conradi sieht sich als neuen Wilhelm Tell, der die Menschheit von den Kommunisten befreit. Bildquelle: Archives Police Cantonale Vaudoise.
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Bild 2 von 15. Moritz Conradi (rechts im Bild) wird am 10. Juni 1896 in St. Petersburg als Sohn reicher Eltern geboren. Der Schweizer wächst in Russland in grossem Wohlstand auf. Bildquelle: Album Sigrid Schlegel-Conradi.
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Bild 3 von 15. Sigrid Schlegel-Conradi, die Nichte von Moritz Conradi, hütet das Familienalbum wie einen Schatz. Bildquelle: Helen Stehli Pfister.
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Bild 4 von 15. Die ehemalige Süsswarenfabrik Conradi in St. Petersburg ist vor der Russischen Revolution von 1917 eine der grössten und berühmtesten im Zarenreich. Bildquelle: ZGAKFFD St. Petersburg.
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Bild 5 von 15. Vor 1917 beschäftigt die Süsswarenfabrik Conradi in St. Petersburg bis zu 500 Angestellte. Nach der Revolution von 1917 wird sie verstaatlicht. Bildquelle: ZGAKFFD St. Petersburg.
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Bild 6 von 15. Conradis Grossvater wandert als armer,15-jähriger Bursche aus dem Bündnerland nach St. Petersburg aus, wird Zuckerbäcker und reicher Süsswarenfabrikant. Bildquelle: Helen Stehli Pfister.
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Bild 7 von 15. Die Russische Revolution von 1917 zerstört das Leben der Russlandschweizer Familie Conradi in St. Petersburg. Bildquelle: Muzei politiceskoj istoriii Rossii.
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Bild 8 von 15. Zar Nikolaus II. – Moritz Conradi kann das Ende seiner Herrschaft im März 1917 nie verschmerzen. Bildquelle: Earnest Lipgart.
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Bild 9 von 15. Das Polytechnische Institut in St. Petersburg, eine Eliteschule des Zaren, die Moritz Conradi bis zum 1. Weltkrieg besucht. Bildquelle: Helen Stehli Pfister.
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Bild 10 von 15. Am 10. Mai 1923 erschiesst Moritz Conradi den hohen Sowjetdiplomaten Watzlaw Worowski in Lausanne. Bildquelle: Archives Police Cantonale Vaudoise.
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Bild 11 von 15. Die Browning-Pistole für das Attentat kauft Conradi in einem Waffengeschäft in Zürich. (nachgestellte Szene). Bildquelle: Helen Stehli Pfister.
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Bild 12 von 15. Der Conradi-Prozess findet in Lausanne im November 1923 statt und löst ein riesiges Medienecho aus. Der Fall schlägt hohe Wellen im In- und Ausland. Bildquelle: Archiv Ringier.
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Bild 13 von 15. Das Mordopfer, Watzlaw Worowski (1871-1923), hoher Sowjetdiplomat und ein Freund Lenins. Bildquelle: Privat.
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Bild 14 von 15. Seine letzten Lebensjahre verbringt der Attentäter im Bündnerland. Eigene Kinder hat er nie, das Baby ist seine Nichte Sigrid. Er stirbt 1947 in Chur. Bildquelle: Album Sigrid Schlegel-Conradi.
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Bild 15 von 15. Die Juristin Annetta Caratsch hat eine Dissertation mit dem Titel «L’Affaire Conradi» geschrieben. Niemand kennt den Fall Conradi so gut wie sie. Bildquelle: HSP.
Der Dokfilm hat am Donnerstag, 23. März 2017, im Landesmuseum Zürich Premiere und Sie können ihn im Anschluss hier online sehen.