Zur Erinnerung: Paul Sahlis Wirbelsäule ist seit seiner Jugend massiv verkrümmt, eine sogenannte Skoliose. Mit viel Training und unglaublicher Disziplin konnte Sahli damit schmerzfrei leben.
Er vollbrachte als weltbester Fussball-Jongleur sogar Spitzenleistungen. Davon zeugen diverse Einträge im «Guiness-Buch der Rekorde», eine Reihe von Auftritten in der Sendung «Wetten dass» und einer erst kurz vor seinem Unfall bei den Olympischen Spielen in Peking. Trotz der Behinderung arbeitete Paul Sahli immer. Zuletzt in den Industriewerken der SBB in Olten. Dort verrichtete er auch körperlich schwere Arbeiten. Problemlos, bestätigen Kollegen.
Folgenschwerer Suva-Entscheid
Was bisher geschah:
Am 31. Juli 2009 wurde der heute 65jährige auf der Autobahn Opfer eines Auffahrunfalles: Ein Lieferwagen raste mit 100 Stundenkilometern in die hintere linke Ecke seines Wagens. Der Opel Corsa wurde 25 Meter nach vorne katapultiert. Die Folge: Sahli musste seine Arbeit aufgeben, er konnte vor Schmerzen kaum noch schlafen, musste zur Therapie. Doch die Suva, die gesetzliche Unfallversicherung, stellte nach einem Jahr ihre Zahlungen ein: Sahlis aktueller schlechter Gesundheitszustand sei nicht auf den Unfall zurückzuführen. Er wäre heute auch ohne diesen Vorfall in so schlechter Verfassung. Die Folge: Sahli verlor fast die Hälfte seines Einkommens. Gegen den Entscheid der Suva reichte er beim Versicherungsgericht Solothurn Beschwerde ein.
Diese hat das Gericht nun abgelehnt. Es sieht keinen Grund, dem Gutachten des Wirbelsäulenspezialisten Professor Norbert Boos nicht zu folgen. «Kassensturz» hat dieses Gutachten im September 2013 kritisiert. Laut Gutachten ist der Auffahrunfall, den Paul Sahli im Sommer 2009 unschuldig erlitten hat, nicht für seine aktuellen Rückenbeschwerden verantwortlich. Zwar könne bei einer so hochgradigen Skoliose (Verkrümmung der Wirbelsäule) bereits ein einfaches «Bagatelltrauma» eine so genannte Dekompensation auslösen. Doch ausgerechnet im Fall des bis zum Autounfall sportlichen und schwer arbeitenden Sahli kommen die Gutachter zum Schluss, es sei «zwar möglich aber nicht überwiegend wahrscheinlich», dass der Unfall den Gesundheitszustand entscheidend verschlimmert habe.
Lückenhafte Aktenlage als Eintscheidungsbasis
Das Gericht folgt damit einem Gutachten, dessen Verfasser selber sagt, es basiere auf einer «lückenhaften» Aktenlage. Im Juli 2013 hat Norbert Boos dies in einem persönlichen Brief an die Sahlis bestätigt. Er schrieb, die Aktenlage sei «für die ersten drei Monate nach Ihrem Unfall unvollständig und lückenhaft.» Paul Sahli ist gleichermassen schockiert, wütend und verzweifelt über den Entscheid der Solothurner Richter. «Wie kann es sein, dass ein Gerichtsgutachten, das sogar vom Gutachter selber uns gegenüber als lückenhaft und unvollständig bezeichnet wird, vom Gericht als vollständig akzeptiert wird», fragt sich Sahli gegenüber «Kassensturz».
Das Gericht sieht in diesem Umstand offenbar kein Problem. Es schreibt abschliessend, weitere Abklärungen versprächen keine zusätzlichen Erkenntnisse. Und im Übrigen gebe es den «durch die Rechtsprechung anerkannten und daher nicht beweisbedürftigen allgemeinen Erfahrungssatz», wonach in Fällen bestehender Wirbelsäulenerkrankungen eine traumatische Verschlimmerung nach spätestens einem Jahr «abgeschlossen» sei.
Nächster Schritt: Bundesgericht
Für Sahlis Anwalt, Remy Wyssmann, steht fest, wie es weiter geht: «Spätestens am 21. November 2013 werde ich fristgerecht die Beschwerde beim Bundesgericht einreichen.» Die Richter in Solothurn hätten willkürlich gehandelt, indem sie dem Gutachter zusätzliche Unterlagen vorenthalten hätten. Und der Sozialversicherungsspezialist weist darauf hin, dass in den Unterlagen von Paul Sahlis Hausarzt starke Rückenschmerzen bereits kurz nach dem Unfall dokumentiert seien. Diese Unterlagen könnten entscheidend sein, denn laut Professor Boos belegen in solchen Fällen starke Schmerzen kurz nach dem Unfall, dass der Unfall den Gesundheitszustand «richtunggebend» verschlechtert hat.
Dass Paul Sahli bis zum Unfall fit und schmerzfrei war, findet im Urteil keine Erwähnung. Sahli: «Ich habe 45 Jahre ohne Schmerzen gearbeitet. Ich habe Spitzensport betrieben als Fussballer in der damaligen Nati A. Und ich habe 27 Jahre Spitzenleistungen erbracht als Ball-Jongleur. Oder glaubt jemand im Ernst, dass ein Mensch, der Schmerzen hat, freiwillig jeden Tag zwei bis drei Stunden trainiert?»
Der Berner Rückenspezialist, Professor Max Aebi, der Sahli untersucht und behandelt hat, hat es im «Kassensturz» im Mai 2012 gesagt: «Der Zusammenstoss hat das Unfallopfer aus dem körperlichen Gleichgewicht geworfen.» Eigentlich ein klarer Fall.