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Warum Krisen uns guttun können
Aus Wissenschaftsmagazin vom 22.06.2024. Bild: KEYSTONE/EPA/PANTELIS SAITAS
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Der Wert von Krisen Desaster machen Menschen widerstandsfähiger und Affen netter

Extremereignisse können unerwartet positive Folgen haben. Primaten wie der Mensch lernen von Krisen besonders dann, wenn sie häufig sind.

In weit über 100 Konflikten kämpfen Menschen derzeit mit Waffen gegeneinander. Das bedeutet für die betroffenen Gesellschaften Krise, Not und grosses Leid. Für manche Kulturen in der Vergangenheit sogar den Untergang.

Trotzdem können Extremereignisse wie Kriege, Klimawandel oder Hungersnöte sozial lebende Arten stärken. Das gilt nicht nur für den Menschen, sondern auch für andere Primaten.

Krisen dauern

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Krisen kommen, um zu bleiben. Sie erstrecken sich über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte. Im Schnitt dauerten die 154 vermessenen Störungen 98 Jahre.

Knapp die Hälfte aller Krisen hielt zwischen 100 und 500 Jahre, beziehungsweise bis zu 50 Jahre an. Immer sind mehrere Generationen betroffen und manchmal sehr viele. Vor etwa 8200 Jahren ereignete sich im Nahen Osten ein Bevölkerungseinbruch, von dem sich die Region über 2000 Jahre nicht mehr erholte.

Affen teilen sich den kühlenden Schatten gerechter auf, je spärlicher er ist. Menschliche Gesellschaften wiederum erholen sich schneller von Krisen, je häufiger sie solche erleben. Das legen die paradox anmutenden Resultate zweier aktueller Studien nahe.

Je mehr Krisen, desto widerstandsfähiger

Die menschliche Geschichte ist voller Zeugnisse kollabierender Gesellschaften: vom Römischen Reich bis zur Hochkultur der Maya. Aber es gibt auch Kulturen, die gestärkt aus Krisen hervorgehen. Warum bloss?

Wie man Katastrophenzeiten identifiziert

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Bevölkerungseinbrüche und -aufschwünge sind das Mass, das Krisen abbildet. Die Grösse einer Gesellschaft spiegelt sich archäologisch in der Hinterlassenschaft der Menschen. Wo Menschen leben, bleiben Spuren. Wird eine Gruppe grösser, verbrennt sie mehr Holz, konsumiert mehr Nahrung, und lässt mehr Abfall zurück.

Was davon zurückbleibt, können Archäologinnen mit der Radiokarbonmethode datieren. In der vorliegenden Studie analysierten die Forschenden über 40'000 Radiokarbondaten von der Antarktis bis zu den Tropen, die sie aus bereits bestehenden Datenbanken und Studien zogen.

Archäologe Philip Riris untersuchte mit seinem Team das Schicksal von sechzehn historischen Gesellschaften der vergangenen 30'000 Jahre. Das Ergebnis: Jede Kultur war mit Niedergang konfrontiert – ob im peruanischen Hochland, den australischen Trockengebieten, dem Süden Afrikas oder dem Südwesten Norwegens.

Die Gebeutelten sind resilienter als die Verschonten

Doch je öfter eine Gesellschaft einen Schock erlebte, desto widerstandsfähiger wurde sie. Das mag zynisch klingen angesichts der heutigen Kriegsschauplätze, hat aber seine Logik.

Gesellschaften können lernen, wie sie mit Extremereignissen wie Konflikten, Vulkanausbrüchen, extremer Dürre oder Hitze umgehen. Kommen Krisen häufiger, bleibt das Gelernte präsent.

Die Erfolgreichen unter den Krisengeprüften

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Kulturen auf der koreanischen Halbinsel, der zentralchinesischen Ebene und der Karibik meisterten Krisen besonders erfolgreich. Sie haben sich schnell erholt und gingen aus 40 Prozent der Krisen nicht nur erholt, sondern gestärkt hervor. Die Bevölkerung war nach der Krise grösser als zuvor.

Die britische Studie von Riris und seinen Kollegen zeigt, dass sehr oft Klimaveränderungen und Extremwetterereignisse zu einem Bevölkerungsabschwung führten – und da vor allem Dürre. Die bekanntesten Beispiele katastrophaler Bevölkerungsabnahme sind das grosse Sterben in den beiden Amerikas nach dem Einfall der Europäer 1492 und der Kollaps des weströmischen Reichs nach einer langen Periode der ländlichen Entvölkerung.

Bevölkerungszusammenbrüche sind ein potenzieller Trigger für die Investition einer Gesellschaft in Infrastruktur, den sozialen Zusammenhalt und technologischen Fortschritt. Viele Forschende nehmen an, dass es die Krisen waren, die die Menschheit schliesslich über Jahrtausende hinweg vorwärtsbrachten.

Das trifft vor allem auf Ackerbau- und Viehzuchtgesellschaften zu. Nomadisch lebende Gruppen ziehen weiter, wenn’s schwierig wird. Sesshafte Menschen können das nicht.

Sesshafte Kulturen waren also besonders gezwungen, aus dem Erlebten zu lernen. Und das taten sie offensichtlich auch. Ihre Bevölkerungszahl ging zwar häufiger zurück. Über die Zeit aber waren sie insgesamt resilienter.

Krisen und Klimawandel sind eng vergesellschaftet

Oft koinzidierten Krisen mit klimatischen Veränderungen. Das gilt nicht nur für menschliche Kulturen, sondern auch für die Protagonisten der zweiten aktuellen Krisen-Studie: die Rhesusaffen auf der kleinen, unbewohnten Karibikinsel Cayo Santiago vor Puerto Rico. Lauren Brent beobachtet dort mit ihrer Forschungsgruppe seit zwölf Jahren eine Population dieser Primatenart.

Im Jahr 2017 entwurzelte ein Hurrikan die meisten Bäume auf der Karibikinsel. Nach diesem Desaster änderten die Tiere ihr Verhalten. Die gewöhnlich überaus aggressiven Rhesusmakaken wurden milder, und die Gruppe teilte sich den spärlich gewordenen Schatten gerecht auf.

Mehrere Affen sitzen unter einem Baum in einem zerstörten Wald.
Legende: Rhesusmakaken gelten als überaus aggressive Primaten, haben aber in Cayo Santiago gelernt, dass sich Kooperation in Extremsituationen auszahlt. Lauren Brent

Die Affen arrangierten sich also. Ganz wider ihrer Natur, aber mit Erfolg. Zwar bogen nicht alle Tiere auf den Pfad des Friedens ein, aber die garstigen Individuen lebten gefährlich. Kämpfe sind energiezehrend und erhöhen die Körpertemperatur. Das kann bei Temperaturen von bis zu 40 Grad und mangelndem Schatten tödlich enden.

So kam es, dass auf Cayo Santiago die netten Affen plötzlich einen Überlebensvorteil hatten. Sie pflanzten sich fort und brachten weitere versöhnliche Generationen hervor. Sozusagen eine friedliche Evolution im Zeitraffer.

Wissenschaftsmagazin, 22.06.2024, 12:40 Uhr

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