Viele Studien zeigen, dass Menschen später eher zuschlagen, wenn sie als Kind längerfristig Spannungen ausgesetzt waren. Zum Beispiel, wenn die allein erziehende Mutter ständig ungeduldig war oder die Eltern dauernd stritten.
Dieser Stress setzt sich in Kindergehirnen so fest, dass sie später Mühe haben, Aggressionen abzubauen – sie schlagen schneller zu: So erklärte Martin Hafen, Soziologe und Präventionsspezialist an der Hochschule Luzern, das Phänomen letzte Woche an einer Fachtagung in Lugano.
Eine Umgebung, wo sie verlässliche, liebevolle Beziehungen erleben.
Eine probate Gegenmassnahme ist die so genannte Frühförderung: Sie setzt schon bei Kindern an, die jünger als 5 Jahre alt sind – also in Kinderkrippen. Zentral dabei ist laut Hafen der Verzicht auf den Leistungsgedanken. «Es geht nicht darum, diesen Kindern Frühchinesisch beizubringen», sagt er, «sondern ihnen eine Umgebung zu ermöglichen, wo sie verlässliche, liebevolle Beziehungen erleben und daraus lernen.»
Erfolgreicher Versuch in Zug
Wie Frühförderung in Kinderkrippen konkret aussehen kann, beschreibt Erziehungswissenschaftlerin Isabelle Rüttimann anhand eines zweijährigen Pilotprojekts der Stadt Zug. Dort erhielten die Krippen-Mitarbeiterinnen einen Leitfaden zur besseren Förderung der Kinder. Wichtigster Punkt: den Kindern mehr Aufmerksamkeit schenken – gerade, wenn sie streiten.
Statt Zank zu unterbinden, sollten die Mitarbeiterinnen aufzeigen, wie er für alle Beteiligten gelöst werden kann, so gut es geht. So lernen die Kinder sehr früh, mit ihren Aggressionen umzugehen. Diese und weitere Massnahmen haben laut Rüttimann in Zug Früchte getragen.
Die Kinder, so die Erziehungswissenschaftlerin, seien ruhiger und die Beziehung der Mitarbeiterinnen zu den Eltern besser. Und die Mitarbeiterinnen könnten ihr eigenes Verhalten besser begründen. Das alles brauchte freilich mehr Zeit – und ist damit, wie Rüttimann betont, auch eine Kostenfrage.
Förderung versus Freiheit der Familie
In der Schweiz wird diese Methode stiefmütterlich behandelt, bedauert Präventionsspezialist Hafen. Laut OECD-Studien sind nur 0,2 Prozent des Bruttoinlandproduktes für Frühförderung vorgesehen. In Österreich sind es 0,5 Prozent und in den skandinavischen Ländern gar 1,2. Für diesen Unterschied macht Soziologe Hafen unter anderem den föderalistischen Charakter der Schweiz verantwortlich.
Jeder Kanton entscheidet selbst, wie sehr er auf diese Karte setzt. Die zuständigen Politiker sehen Frühförderung oft als Angriff auf die Freiheit der Familie – und die wird in der Schweiz sehr hoch gewertet, so Hafen. Mit gewissem Recht: Rund 85 Prozent der Eltern seien hierzulande im Stande, ihre Kinder in den ersten Lebensjahren so zu unterstützen, dass sie gesund aufwachsen und sich gesund weiter entwickeln.
Potenzial für die «Problemfälle»
Doch für die restlichen 15 Prozent geschieht praktisch nichts. Vielfach handelt sich dabei um Familien mit ausländischen Wurzeln und einem niedrigen Bildungsniveau. Experte Hafen findet den Verzicht auf Hilfe erstaunlich, da die wissenschaftliche Evidenz für die ungeheure Präventionsleistung der Frühförderung bestechend sei.
In Langzeitstudien konnte nachgewiesen werden, dass kleine Kinder aus benachteiligten Familien, die gefördert wurden, später mindestens sechs Mal weniger gewalttätig waren. Auch gegenüber sich selbst. Und sie konsumierten weniger Drogen.
Österreich: Modell für die Praxis
Wie auf der Ebene der Familien frühkindliche Förderung aussehen kann, beschreibt Hafen am Beispiel Vorarlberg in Österreich (siehe Infobox). Für ihn ein weiterer Beweis, dass frühkindliche Förderung keine Abwehr erzeugen muss, sondern sehr fruchtbar sein kann.
Für die Gesellschaft, so der Fachmann, zahle es sich auf jeden Fall aus: Weil gefährdete Kinder als Erwachsene erwiesenermassen seltener kriminell oder suchtgefährdet sind – kurzum: seltener abhängig von staatlicher Hilfe.