Alle reden von Innovation. Dabei sei der Begriff längst zum inhaltsleeren Fetisch geworden, schreibt der Historiker und Wissenschaftsjournalist Marcel Hänggi in seinem neuen Buch «Fortschrittsgeschichten. Für einen guten Umgang mit Technik». Denn mit dem Wort «Innovation» suggeriere man stillschweigend, jede neue Technik sei zwangsläufig besser als die vorangehende.
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Das Rad? Nicht nötig mit Kamelen
Diesem linearen Modell von Fortschrittsdenken widerspricht Hänggi in seinem Buch mit historischen Beispielen. So wurde das Rad – Inbegriff einer nützlichen Technologie – mancherorts auch wieder «weg erfunden». Im alten Persien zum Beispiel: Dort machte das Kamel als gutes Lasttier, aber schlechtes Zugtier das Rad schlicht überflüssig – und damit auch den kostspieligen Unterhalt von befahrbaren Strassen.
Ein anderes Beispiel ist die Dampfmaschine, die den Menschen mitnichten von mühseliger körperlicher Arbeit befreite, sondern diese sogar beflügelte – insbesondere die menschliche Zwangsarbeit, denn mit der Dampfmaschine habe die Baumwollindustrie einen wahren Boom erlebt, erzählt der Journalist. Als Folge habe sich die Zahl der Sklavinnen und Sklaven in den USA vervielfacht.
Erfolgreich nur dank Lobby-Einsatz
Für viele so genannte «Innovationen» musste man eine Nachfrage überhaupt erst schaffen. Der Bau der Eisenbahn in den USA sei zum Beispiel überhaupt nicht alternativlos gewesen, so Hänggi. Um ihr zum Durchbruch zu verhelfen, habe es eine mächtige Lobby gebraucht, die eine alte Technik, nämlich die Dampfschifffahrt auf Kanälen, aufkaufte und zerstörte. Erst dadurch wurde die Eisenbahn alternativlos.
Das gelte auch fürs Auto. Hänggi zitiert den Technikhistoriker David Nye: «Die Wahlmöglichkeiten im Verkehr haben seit 1905 abgenommen, als die USA Millionen Pferde hatte, ein starkes Busnetz, Fahrräder und einige der besten Personenzüge der Welt (…) Die Geschichte des amerikanisches Verkehrsnetzes zeigt, dass eine wohlhabende Nation Wege einschlagen kann, die ihre Wahlfreiheiten beschränken, statt sie zu erweitern.» Neue Techniken können eine Gesellschaft also ärmer statt reicher machen, schlussfolgert Hänggi.
Wer redet noch vom Klee?
In seinem Buch bespricht er allerdings auch einige «Innovationen», die selten als solche wahrgenommen werden. Zu Beispiel den Anfang des Klee-Anbaus in den Niederlanden im 16. Jahrhundert. Diese Pflanzen ermöglichten es, dem Boden zwischen zwei Saaten viel mehr Stickstoff zuzuführen als mit dem Mist vom Vieh. Von Stickstoff wussten die Bauern damals zwar noch nichts. Doch die neue Anbau-Art machte es möglich, den Ertrag der Böden pro Fläche stark zu steigern.
Der Tenor des Buches lautet: «Technik ist nicht einfach gut. Technik ist nicht einfach schlecht. Technik ist aber auch nicht neutral.» Es gelte jedes Mal aufs Neue, über die Nutzen und Gefahren einer neuen Technik zu debattieren. Genau das aber verschleiert der Allerweltbegriff «Innovation».