SRF: Sie sind soeben von einer Libyen-Reise zurückgekehrt. Wie ist die Situation im Land?
Kurt Pelda: Die Medien zeichnen ein völlig falsches Bild vom Land. Es herrscht kein Chaos so wie in Syrien oder Irak. Milizen, die sich oft auf Stammesbasis zusammensetzen, regieren in den Städten, und da funktioniert der Alltag. Es gibt Internet, Telefon, Müllabfuhr. Die Konflikte sind nur punktuell im Land spürbar.
Aber den Staat Libyen gibt es nicht mehr.
Das ist richtig. Man muss sich das Land in zwei Teilen vorstellen, Ost und West, dazwischen die Sahara, die in der Bucht von Sirte ans Mittelmeer stösst. Im Westen, in Tripolis, regiert ein Islamisten-Bündnis, deren Mitglieder das Resultat der Wahlen im Jahr 2014 nicht akzeptiert haben. Das Bündnis verjagte das demokratische gewählte Parlament aus Tripolis. Dieses sitzt nun im Osten in der Provinzstadt Tobruk. Und dann gibt es da noch die kürzlich von der UNO eingesetzte Übergangsregierung in Tripolis, die aber noch keine Minister ernannt hat. Es gibt also im Moment drei Regierungen, plus den IS.
Wie stark ist der IS im Land verankert?
Man spricht von bis zu 6000 IS-Kämpfern. Das sind nicht viele für ein so grosses Land. Die IS-Leute sitzen in Sabrata, Bengasi und Derna, aber vor allem in Sirte und Umgebung. Sirte liegt in der Wüste zwischen Ost und West. Genau da haben sich die Terroristen hineingepflanzt. Da, wo das Machtvakuum zwischen den verfeindeten Regierungen ist. In Sirte gibt es viele Gaddafi-Anhänger, die beim IS andienen, weil sie sich rächen wollen an der Revolution. Die meisten IS-Leute in Sirte kommen aber aus Tunesien. Sie sind unter anderem da wegen des Soldes. Und dann hat es auch noch einige libysche Rückkehrer aus Syrien.
Die internationale Staatengemeinschaft sieht den IS als grosse Gefahr an, der das Land noch mehr destabilisieren könnte. Wie bedrohlich ist der IS für Libyen wirklich?
Wenn nichts gemacht wird, ist der IS eine Gefahr. Südöstlich von Sirte liegen die grossen Ölfelder. Im Moment lebt der IS in Sirte von Kidnapping und Bankraub, aber wenn es den Terroristen gelingt, zu den Ölfeldern vorzudringen, dann wäre das ein grosser Schlag. Das langfristige Ziel des IS ist sicher, nach Westafrika auszustrahlen. Im Moment sind die Leute des IS noch nicht Sahara-tauglich. In Sirte hat man immer noch ein Minimum an Vegetation. Für mich ist das bedrohlichste Szenario, wenn der IS lernt, sich in der Wüste zu bewegen und da einfach verschwinden kann. Dann kommt der IS bis zu Boko Haram nach Nigeria hinunter und verbindet sich mit denen. Das wäre dann die neue Achse des Terrors. Noch ist der IS aber auf die alten Schmuggler-Netzwerke in der Sahara angewiesen.
Ihre Prognose? Wird der IS Sahara-tauglich?
Es kommen zwar Kämpfer von Syrien und Irak nach Libyen. Das ist aber noch keine Fluchtbewegung. Im Moment hat die Terrororganisation in Sirte eher Mühe mit dem Waffen-Nachschub. Oben vom Meer her riegeln die Nato-Schiffe die Zufahrt zum Hafen von Sirte ab. Unten versucht Tripolis, den Ring um Sirte schliessen. Eigentlich ist es ein recht ungünstiges Gebiet, um einen Eroberungsfeldzug zu starten. Also ich würde jetzt da nicht mein Kopf drauf verwetten, dass der IS erfolgreich sein wird. Wenn die Stämme und Milizen aber endlich geeint gegen den IS vorgingen, wäre der IS binnen weniger Tage erledigt. Deshalb will die internationale Gemeinschaft jetzt die Übergangsregierung einsetzen.
Hat die neue Übergangsregierung in Tripolis eine Chance?
Bis jetzt haben sie noch keine richtige Einigung erzielt. Der Fehler der UNO ist, dass sie zuerst versucht, eine Regierung zu bilden, bevor sie festlegt, wie man das Ölgeld auf die Stämme und Regionen verteilt. Zudem wurde als Präsident der Übergangsregierung ein Mann aus Misrata eingesetzt, der im Rest des Landes sehr unbeliebt ist, ein Spaltpilz. Das alles macht mich skeptisch.
Europa möchte aber endlich einen Ansprechpartner in der Flüchtlingsfrage haben.
In der Tat. Es hat in Libyen zirka eine halbe Million Gastarbeiter und Migranten, mehrheitlich Afrikaner. Ich schätze, dass über 60 Prozent von ihnen mit dem Gedanken spielt, nach Europa zu kommen. Zirka 50‘000 Migranten sitzen zusätzlich in Gefängnissen. Ich habe mit vielen gesprochen. Die allermeisten, vielleicht etwa 98 Prozent, flüchten nicht vor Krieg, sondern vor Armut. Sie sagen von sich selber, sie seien «Aventurier». Als ich sie fragte, was sie mit «Aventure» meinen, sagten sie, das sei die Durchquerung der Sahara. Es gehe ihnen um bessere Verdienstmöglichkeiten.
Wenn sie dann mal an der Küste Libyens sind, dann kostet es sie noch etwa 1200 Dollar bis nach Europa und ein bisschen Glück. Die Schlauchboote taugen meistens nicht für die Überfahrt. Sie müssen es nur über die 12-Meilen-Zone schaffen. Dann sind sie in internationalen Gewässern, wo sie von den Nato-Schiffen gerettet werden. Europa braucht also dringend eine Lösung mit Libyen, um das Flüchtlingsproblem in den Griff zu bekommen.
Und die Lösung wäre?
Libyen ist derzeit vor allem in Stämmen organisiert, weil der Staat den Individuen zu wenig Schutz bieten kann. Die meisten Stämme sind nach den Städten aufgeteilt. Wir haben es derzeit also mit eigentlichen Stadtstaaten zu tun. Darum funktionieren diese Städte auch einigermassen. Man müsste mit den Milizenführern dieser Städte verhandeln, auch wenn sie korrupt und nicht demokratisch gewählt sind. Europa muss sich vom Gedanken verabschieden, nur mit Staaten verhandeln zu wollen. Ausserdem muss man diesen Leuten finanzielle Anreize bieten.
Das macht die UNO heute teilweise schon. Sie hat der Einheitsregierung die über 70 Milliarden Dollar des Gaddafi-Geldes versprochen, das noch im Ausland eingefroren ist. Aber das reicht nicht. Neben einem Verteilschlüssel des Ölgeldes braucht es auch härtere Sanktionen gegen jene, die nichts von Frieden wissen wollen. Zudem müsste man den Libyern helfen, die gestrandeten Migranten schnell zu repatriieren. Ich habe diese Menschen in den Gefängnissen besucht. Die Zustände sind menschenunwürdig, ein Horror. Die sind da in den Zellen Mann an Mann, inhaftiert ohne jeden Gerichtsprozess. Es wäre deshalb ein humanitäres Gebot, die inhaftierten Migranten in ihre Herkunftsländer zurückzubringen. Die Libyer machen das bereits, aber es fehlt an Geld und Flugzeugen. Hier könnte Europa helfen.
Das Gespräch führte Christa Gall.