Europa ächzt unter den nicht enden wollenden Flüchtlingsströmen. Hunderttausende Syrer haben die Hoffnung auf eine Zukunft in ihrer Heimat aufgegeben, und brechen buchstäblich auf zu neuen Ufern. An der Jubiläumssitzung der Vereinten Nationen wird der Exodus aus dem Bürgerkriegsland bestimmendes Thema sein. 70 Jahre nachdem sich die UNO-Vollversammlung bei ihrer ersten Generaldebatte mit dem Schicksal der Vertriebenen des 2. Weltkriegs befasste.
Mit Spannung wird dabei der Auftritt des 6. von insgesamt 196 Rednern erwartet: Wladimir Putin. Russlands Präsident wird zum ersten Mal seit zehn Jahren auf der grossen Weltbühne sprechen. Und die Weltgemeinschaft wartet auf Erklärungen: Seit Wochen verdichten sich die Hinweise auf ein militärisches Engagement Russlands in Syrien. Der Kreml hat Kampfflugzeuge, Panzer und Soldaten auf seinen Militärbasen im Land zusammengezogen.
Gegen eine «Somalisierung» Syriens
Man wolle verhindern, so Putin am Wochenende, dass sich die Lage in Syrien «somalisiert», die Entsendung von Bodentruppen sei im Moment nicht vorgesehen. Will sich der Kreml also lediglich in die internationale Allianz gegen den Terror einreihen? Beobachter bezweifeln dies. «Dass Russland stärker als bisher als Akteur auftritt, beunruhigt viele. Nicht zuletzt die Amerikaner, weil Russland klar Stellung bezieht für Diktator Assad», sagt Fredy Gsteiger. Der diplomatische Korrespondent verfolgt für Radio SRF die UNO-Vollversammlung in New York.
Wegschauen, die Sache tragisch finden, aber letztlich wenig oder gar nichts zu tun – das geht nicht mehr.
Doch unter die allgemeine Beunruhigung mischt sich leise Hoffnung, vor allem auf dem alten Kontinent. Denn vorab die europäischen Staats- und Regierungschefs dürften die Ohren spitzen, wenn Putin spricht. «Mit den Strömen an Kriegsflüchtlingen ist die Krise in Syrien näher an Europa herangerückt. Wegschauen, die Sache tragisch finden, aber letztlich wenig oder gar nichts zu tun – das geht nicht mehr», sagt Gsteiger.
Spricht US-Aussenminister Kerry aktuell vage davon, dass Russland und die USA ihre Aktionen in Syrien koordinieren müssten, wird man in Europas Hauptstädten deutlicher. Im Angesicht der Flüchtlingskrise leitet man beispielsweise in Berlin die rhetorische Rehabilitierung Putins ein. Der deutsche Vize-Kanzler Sigmar Gabriel etwa denkt inzwischen laut über eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland nach.
Wird Assad wieder salonfähig?
Auch eine – temporäre – Rehabilitierung einer anderen persona non grata der Weltgemeinschaft wird auf einmal in Betracht gezogen: Baschar al-Assad. Englands Premier David Cameron verzichtet inzwischen auf die Forderung eines sofortigen Rücktritts von Syriens Diktator, der wegen seines brutalen Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung geächtet ist. Die deutsche Kanzlerin Merkel befand, es müsse mit Assad «gesprochen werden», und auch Paris rückt von seinem strikten Nein ab.
Die konzilianten Töne aus Europas Machtzentren haben Gründe, wie SRF-Experte Gsteiger ausführt. Um tatsächlich Fortschritte im blockierten Konflikt zu erzielen, müssten alle von ihrer «Maximalforderungen» abrücken. Personalisiert wird diese Maximalforderung durch Assad. Und, es gibt einen «kleinsten gemeinsamen Nenner für ein gemeinsames Vorgehen» in Syrien, wie Gsteiger erklärt: «Die Abscheu vor dem ‹Islamischen Staat».
Ob diese auch in den Golfstaaten und Saudi-Arabien vergleichbar gross ist, oder ob doch die Abscheu gegenüber Assad überwiegt, ist fraglich. Fest steht für Gsteiger: «Diese Staaten, und auch der Iran, müssen eingebunden werden. Sonst funktioniert es nicht.»