Es ist ein Urteil des Europäischen Gerichgtshofs für Menschenrechte mit Nachhall: Die Schweiz darf eine afghanische Flüchtlingsfamilie mit sechs Kindern erst nach Italien ausliefern, wenn dort die richtige Betreuung garantiert ist. Der Entscheid aus Strassburg rückt auch das Dublin-Abkommen in ein neues Licht. Es besagt, dass Asylbewerber in das Land ihres ersten Asylantrags zurückgeführt werden können. Das Urteil ist dementsprechend auch eine klare Kritik am desolaten Zustand des italienischen Asylwesens.
In Rom schlug das Urteil allerdings keine Wellen. Wie Korrespondent Massimo Agostinis berichtet, gab es weder eine Reaktion von der Regierung Renzi oder anderer Politiker, noch berichteten Zeitungen darüber. Renzi habe sich ohnehin noch nie zu Flüchtlingen geäussert, vermutlich auch in der Absicht, die eben gewonnenen Rechten nicht zu verlieren. Rasche Änderungen seien also durch das Abseitsstehen der Regierung nicht zu erwarten.
Wir wird Rom reagieren?
Agostinis hält es für möglich, dass Italien nun hin und wieder Rückübernahmen von Familien verlangsamt – mit der Begründung, leider gerade keine geeignete Infrastruktur zu haben. Hinter dieser Ausrede werde sich Italien aber kaum Monate oder Jahre verstecken können.
Die grosse Masse der allein reisenden Flüchtlinge ist vom Urteil nicht betroffen. Zugleich steigt der Druck in den nordeuropäischen Ländern ständig, die Menschen gemäss Dublin-Abkommen in die jeweiligen Staaten zurückzuführen. Es sei deshalb möglich, dass gar nicht mehr so genau hingeschaut werde, wie Italien zurückgeschickte Familien unterbringe, so Agostinis.
«Italien wird sich wohl erst bewegen, wenn massiver Druck von aussen kommt», erklärt Agostinis. So, wie das bei den Haftbedingungen geschah. Italien reagierte erst, als Bussen von mehreren hundert Millionen Euro drohten. Rasche Änderungen seien nicht zu erwarten:
«Mit Flüchtlingen holt man aus innenpolitischer Sicht keine Punkte. Matteo Renzi hat keine Lust, sich irgendwie vor seiner eigenen Wählerschaft die Hände schmutzig zu machen.»
Stellt die EU jetzt Forderungen an Italien?
Die EU-Kommission teilte bisher lediglich mit, sie werde das Urteil und die allfälligen Folgen für das Asylsystem in Europa sorgfältig analysieren. Forderungen der Kommission seien danach durchaus möglich, stellt Brüssel-Korrespondent Oliver Washington fest. Vorerst spiele die Kommission aber den Ball den aber den EU-itgliedsländern zu. Sie müssten nun selber prüfen, ob sie abgewiesene Asylsuchende auch weiterhin nach Italien zurückschicken wollten oder nicht.
Laut Washington könnte die EU-Kommission Italien in die Pflicht nehmen, wenn es EU-Recht nicht anwendet. Ein weiteres solches Vertragsverletzungsverfahren sei durchaus denkbar. Drei solche laufen bereits gegen Italien. Eines betrifft den Vorwurf, Italien schütze allein reisende minderjährige Flüchtlinge nicht genügend.
Druck wird nicht nachlassen
Solche Verfahren dauern in der Regel Jahre bis zum Abschluss, womit schnelle Praxisänderungen nicht möglich sind. Wenn allerdings ein solches Verfahren einmal abgeschlossen ist, stiege der Druck auf Italien beträchtlich. Etwa, wenn eine Urteil des Europäischen Gerichtshofs Italien zu Verbesserungen verpflichten würde und das Land auch noch eine Millionenbusse zu bezahlen hätte.
Washington geht davon aus, dass sich die Dublin-Länder mit dem gestrigen Urteil bestätigt sehen, den Druck auf Italien aufrechtzuerhalten. Erst vor Monatsfrist mahnten sie Italien eindringlich, alle Flüchtlinge zu registrieren, die in Italien europäischen Boden betreten.